Donnerstag, 31. Mai 2012

Prognosedschungel im „Land of confusion“: Griechenland vor der Wahl oder das große politische „Krisen-Mikado“


In Griechenland jagt eine Wahlprognose die andere. Seit feststeht, dass die Griechen am 17. Juni erneut Parla-mentswahlen abhalten müssen, um dann – vielleicht – eine neue Regierung bilden zu können, ergießt sich eine beispiellose Flut von Wahlumfragen und entsprechenden Prognosen über das Land.

Wahlchancen der Parteien gemäß Umfragen

Einig sind sich die Meinungsforscher offensichtlich darin, dass auch nach der Wahl am 17. Juni keine Partei alleine die Regierung wird bilden können. Einig sind sie sich ebenso darin, dass es ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der konservativen Nea Dimokratia (ND) und dem Linksbündis Syriza geben wird bzw. zwischen deren Spitzenkandidaten Antonis Samaras (ND) und Alexis Tsipras. Einige Umfragen sehen die ND als stärkste Partei, andere sehen Syriza in Front liegen. Die Umfragewerte für diese beiden Parteien schwanken im Vergleich jedoch sehr stark.
Alle andere Parteien, gerade auch die, die am 6. Mai den Einzug ins Parlament schafften, scheinen gemäß Umfragen nur eine untergeordnete Rolle zu spielen.
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Quellen: Amtliches Endergebnis der Wahl von 2009 (1) und vom 6. Mai 2012 (2); Umfragewerte (3) (4) (5) (6) (7)
Das gilt für die Kommunisten (K.K.E.), für die „Unabhängigen Griechen“ (ANEL) mit ihrem Spitzenkandidaten Panos Kammenos und für die neo-faschistische „Chrysi Aygi“ (Goldene Morgenröte), die in der Tendenz alle gegenüber ihrem Wahlergebnis vom 6. Mai an Zustimmung zu verlieren scheinen.
Für die PASOK, mit Evangelos Venizelos an der Spitze, liegen die Umfragewerte meist etwas oberhalb des Wahlergebnisses vom 6. Mai. Es hat jedoch nicht den Anschein, als könnte sich die Partei bei der kommenden Wahl signifikant verbessern. Gemäß der jüngsten Umfrage kommt sie auf 13,5 Prozent der Stimmen. (8)
Die „Demokratische Linke“ (Dimar) lag in den Umfragen anfangs über ihrem Ergebnis vom 6. Mai, zuletzt jedoch darunter. Fotis Kouvelis (63), der Chef von Dimar, hatte bei den gescheiterten Koalitionsverhandlungen eine zentrale Rolle als Vermittler zwischen Befürwortern (ND und PASOK) und Gegnern des Sparkurses (insb. SYRIZA) gespielt. Die Gespräche waren gescheitert, weil Syriza auf den Ausstieg aus den mit der Troika ausgehandelten Sparbeschlüssen und Kouvelis auf einer Regierungskoalition mit Beteiligung von Syriza bestanden hatte.
Kouvelis ist – so wie Syriza auch – für den Verbleib im Euro und gegen den einseitigen Sparkurs, lehnt diesen aber nicht in Bausch und Bogen ab, wie dies Syriza-Chef Tsipras tut. Er sieht Reformbedarf in der staatlichen Verwaltung, etwa beim ineffizienten Steuersystem, wie auch auf den heimischen Märkten im Sinne von mehr Wettbewerb. Er setzt allerdings auf Verhandlungen, um Änderungen sowie ergänzende Wachstumsmaßnahmen zu erreichen. Eine Regierungskoalition kann nach seiner Auffassung nach dem 17. Juni nur dann erfolgreich arbeiten, wenn es diesbezüglich eine klare, aussagekräftige und verbindliche Übereinkunft zwischen den Koali-tionären gibt. Das hat er jüngst betont und damit bereits eine rote Linie für Dimar in neuen Koalitionsverhand-lungen gezogen, was man – bei allem Entgegenkommen gegenüber Syriza – auch als unmissverständliche Mahnung an deren Chef Tsipras verstehen kann, die eigenen Positionen zu klären, das wirklich Machbare in den Blick zu nehmen und sich zu bewegen. (9)
Aus der Flut von Umfragen kann man zusammenfassend zunächst einmal nur schließen, dass sich daraus kein klares Bild ergibt – jedenfalls nicht im Hinblick auf die Frage, wer stärkste politische Kraft wird und wie eine Regierungskoalition aussehen könnte. Insofern kann man durchaus feststellen, dass die Umfrageflut zur Verunsicherung beiträgt.

Viel Skepsis bezüglich der Aussagekraft der Umfragen

Zudem ist die Skepsis bezüglich der Aussagekraft der Umfragen groß, insbesondere wegen des scheinbaren Kopf-an-Kopf-Rennens von Nea Dimokratia und Syriza. So gibt es beispielsweise durchaus Stimmen, die Antonis Samaras von der ND bescheinigen, durch allzu häufige Richtungswechsel sowie durch das Zurückrudern von zunächst formulierten Forderungen seine Glaubwürdigkeit bei den Griechen verspielt zu haben. (10) Andere spiegeln die Umfragewerte der führenden Parteien und das, wofür sie stehen, an den Aussagen von Menschen überall in ihrem Umfeld und gelangen zu dem Schluss, dass sich das Stimmungsbild fortlaufend stark verändert und der Wahlausgang höchst unsicher ist: (11)
„Ich werde nie wieder die ND und die PASOK wählen. Das sind Diebe und Verräter.“
„Ich habe meinen Job verloren und keine Ersparnisse. Ich werde Syriza wählen. Was kann ich denn noch verlieren?“
“Wir brauchen einen neuen Papadopoulos (gemeint ist der verstorbene führende Kopf der griechischen Militärdiktatur ab 1967)“
„Syriza ist die einzige Partei, die sich gegen die Deutschen, die Kapitalisten und die gierigen Banker stellt.“
„Die Parteien schützen die Staatsdiener und deren Interessen. Die einzigen, die ihren Job verloren haben, waren die in der Privatwirtschaft. Ich werde Syriza wählen damit es schneller zum Kollaps kommt.“
„Ich hasse die Nea Dimokratia, aber ich wähle sie diesmal weil ich fürchte, Griechenland könnte den Euro verlassen, falls Syriza gewinnt.“
„Nea Dimokratia und PASOK betreiben Panikmache. Europa und die Deutschen haben Angst und bluffen.”
Andreas Koutras, der in einem Kommentar diese Aussagen aufführt, kommt deswegen bezüglich der Umfragen zu dem Fazit, bei den Griechen seien vor der anstehenden Wahl eine Menge Wut und Verzweiflung im Spiel. Mit Logik und rationalen Argumenten komme man da nicht weiter. Die Wähler säßen in der Falle. Sie fühlten sich emanzipiert, weil sie zum ersten Mal nicht für die beiden großen Parteien (ND und PASOK) gestimmt hätten. Gleichzeitig würden ihnen aber die zur Wahl stehenden Alternativen Angst einjagen. (12) Der Mangel an charismatischen und zugleich fähigen Politikern scheint ein zentrales Problem in der bevorstehenden Wahl zu sein. (13)

Was wollen die Griechen laut Umfragen?

Nach der jüngsten Umfrage wollen (14) (15)
  • 66 Prozent eine Koalitionsregierung,
  • 81 Prozent, dass Griechenland im Euro bleibt,
  • 52,4 Prozent, dass Griechenland im Euro bleibt, auch wenn es dann gezwungen ist, die festgelegten Austeritätsmaßnahmen umzusetzen,
  • 44,5 Prozent, dass Griechenland die Euro-Zone verlässt, wenn die Euro-Partner auf Umsetzung der festgelegten Austeritätsmaßnahmen beharren sollten,
  • 77 Prozent, dass die festgelegten Bedingungen für die Finanzhilfen geändert werden.
Demnach sind die meisten Griechen eindeutig dagegen, den vereinbarten Sanierungskurs in der bisherigen Form, das heißt unverändert, mitzutragen. Man kann hingegen nicht sagen, die Griechen lehnten alle ausgehandelten Maßnahmen kategorisch ab. Wenn die Euro-Partner und der Internationale Währungsfonds sich nicht auf Änderungen einlassen und dies bedeuten sollte, dass Griechenland die Euro-Zone verlassen muss, wenn es also hart auf hart kommt, dann sind zwar gut die Hälfte der Griechen bereit, die Umsetzung der ausgehandelten Maßnahmen zu akzeptieren. Aber knapp die Hälfte der Griechen ist dann nicht mehr bereit, diesen Preis für den Verbleib im Euro zu bezahlen, was eine alarmierend hohe Zahl ist. Das ist somit in jedem Fall etwas, was die Euro-Partner mit Blick auf die absolut ähnlich verlaufende Entwicklung in anderen europäischen Schuldenstaaten und unabhängig von den möglichen Konsequenzen für die Finanzmärkte sehr ernst nehmen müssen.

Wähleranalyse

Hinweise darauf, wie sich die Griechen in der bevorstehenden Wahl verhalten könnten, ergeben sich vielleicht auch aus der Wähleranalyse für die Parteien bei der Wahl am 6. Mai. Denn die meisten Wähler dürften ihre Haltung zu Parteien und zu grundsätzlichen inhaltlichen Fragen nicht so rasch ändern.
Das Linksbündnis Syriza war der große Wahlgewinner. Drei Gründe wurden dafür ausgemacht: (16)
  • Erstens hat Syriza die meisten Stimmen in der Gruppe der unter 50-jährigen bekommen. Auch die „Unabhängigen Griechen“ sowie die neo-faschistische „Chrysi Aygi“ (Goldene Morgenröte) haben in diesem Segment gut abgeschnitten. ND und PASOK haben nur im Segment der 50-65-jährigen am stärksten abgeschnitten.
  • Zweitens hat Syriza sowohl bei den arbeitslosen Wählern (21,5 Prozent) als auch bei denen, die im privaten sowie im öffentlichen Sektor beruflich tätig sind (18 Prozent), viele Stimmen gesammelt. Die ND hat bei den Arbeitslosen nur 12,5 Prozent der Stimmen geholt, die PASOK sogar nur 6,5 Prozent. Bei den Beschäftigten kam die ND auf 14 Prozent und die PASOK auf 11 Prozent. Stattdessen erhielten ND und PASOK mehr Unterstützung aus der Gruppe der Hausfrauen und Rentner.
  • Drittens hat Syriza auch in den drei größten griechischen Städten, nämlich Athen, Patra und Thessaloniki erheblich besser abgeschnitten als ND und PASOK. Die beiden letztgenannten haben dagegen in den ländlichen Bezirken besser abgeschnitten.
Daraus lässt sich schließen, dass ND und PASOK generell bei den Erwerbsfähigen und insbesondere bei denen, die auf eine funktionierende Wirtschaft angewiesen sind, weil sie noch viele Jahre im Berufsleben stehen, massiv an Rückhalt verloren haben. Insofern ist ihr schlechtes Abschneiden ein Misstrauensvotum des die Wirtschaft tragenden Teils der Bevölkerung gegenüber beiden Parteien, die wirtschaftlichen Probleme Griechenlands lösen zu können. Es ist besonders bemerkenswert, dass es nicht nur – wie man vielleicht erwartet haben könnte - die Arbeitslosen waren, die Syriza ihre Stimme gaben, sondern gerade auch Berufstätige.
Aufschlussreich ist darüber hinaus auch, warum die neo-faschistische „Chrysi Aygi“ (Goldene Morgenröte) bei der Wahl am 6. Mai so unerwartet stark abschnitt (6,97 Prozent). Eine aktuelle Untersuchung ergab bezüglich der Motivation der Wähler dieser Partei folgendes Ergebnis: (17)
  • 60 Prozent waren Protestwähler,
  • 29,3 Prozent wollten, dass etwas gegen illegale Immigranten unternommen wird und
  • 4,8 Prozent beschrieben sich selbst als „extrem rechts“.
Hier zeigt sich, dass es keinen echten Rechtsruck in Griechenland gibt. Berücksichtigt man des Weiteren, dass vor der Wahl am 6. Mai niemand in Griechenland ernsthaft damit gerechnet hat, dass Syriza, die bei der Wahl im Jahr 2009 lediglich 4,6 Prozent der Stimmen bekam, ein so starkes Ergebnis (16,78 Prozent) einfahren würde, dann lässt dies durchaus Rückschlüsse auf das Wählerverhalten am 17. Juni zu.
Denn offensichtlich ging es den Griechen am 6. Mai darum, die ND und PASOK abzuwählen ohne – eingedenk der Tücken des diese beiden Parteien begünstigenden Wahlsystems – eine konkrete Möglichkeit zu sehen, wie das gelingen kann. Das Resultat war, dass viele verschiedene kleinere Parteien gewählt wurden. Wenn dies jedoch nach wie vor der zentrale Wunsch vieler Griechen ist, dann könnte die Tatsache, dass sie nun wissen, dass es eine aussichtsreiche Partei gibt, die genügend Stimmen auf sich vereinen kann, um stärkste Partei zu werden und eine Regierung – möglichst ohne ND und PASOK – zu bilden, für den Wahlausgang entscheidend sein.
Darauf deuten im Prinzip auch die Umfragen hin. Denn trotz aller Unterschiede in den Prognosewerten lassen sie erkennen, dass – seit dem 6. Mai – erstens Syriza stark hinzugewonnen hat, während die kleineren Parteien, die ins Parlament gewählt wurden, wieder verloren haben (siehe Tabelle) und die PASOK stagniert.
Die einzigen Umfragewerte, die dabei nicht so recht ins Bild passen, sind die der Nea Dimokratia. Es ist nicht ohne weiteres nachvollziehbar, woher die prognostizierten Stimmenzuwächse herkommen sollen.
Der Ausgang der Wahl in Griechenland am 17. Juni ist vielleicht weniger ungewiss, als es vor dem Hintergrund der vielen, stark voneinander abweichenden Wahlprognosen und der (wegen der Interessenlage im Konflikt zwischen Griechenland und den Euro-Partnern über die Bedingungen für Finanzhilfen) insgesamt recht tendenziösen Berichterstattung in Presse und Medien erscheinen mag.
Darüber hinaus deutet das überraschende Einlenken der Europäischen Kommission bei den Sparanstrengungen Spaniens (18) und sogar gegenüber Ungarn (19) darauf hin, dass man auf europäischer Ebene bereits den Abschied vom einseitigen strikten Spardiktat vorbereitet.
Vor diesem Hintergrund verblasst dann auch die zornige Forderung der IWF-Chefin Christine Lagarde, die Griechen sollten sich selbst helfen und ihre Steuern zahlen. (20) Das gilt umso mehr, als das Sanierungskonzept des IWF bzw. der Washington Consensus ohnehin schon lange in der Kritik steht, die auch in Griechenland zu besichtigende wirtschaftliche und finanzielle Abwärtsspirale in Gang zu setzen. (21) Das wird auch in Griechenland gesehen. (22) (23) Nur noch eine Randnotiz ist es, dass Frau Lagarde selbst ziemlich gut verdient, aber keine Steuern zahlt (24). Die Pointe verkneife ich mir.

Wahlumfragen-Update (Stand: 1. Juni):



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Quelle: ekathimerini.com (25)

Für eine Regierungsmehrheit im 300 Sitze zählenden Parlament sind 151 Sitze erforderlich. Bei der Wahl am 6. Mai kamen Nea Dimokratia (108 Sitze) und PASOK (41 Sitze) zusammen nur auf 149 Sitze (Syriza (52 Sitze), ANEL (33 Sitze), K.K.E. (26 Sitze), Chrysi Aygi (21 Sitze), Dimar (19 Sitze)).
Die Koalitionsgespräche für eine Regierung unter Einschluss mindestens einer weiteren Partei scheiterten. Deswegen wird in Griechenland am 17. Juni erneut gewählt.
Das Linksbündnis Syriza hat sich in der Zwischenzeit als Partei mit dem Namen „Syriza Soziales Unionsbündnis“ (26) neu gegründet, um im Falle eines Wahlsieges den der stärksten Partei nach griechischem Wahlrecht zustehenden Bonus von 50 Sitzen bekommen zu können (27). Aus der Tabelle, die auf einem Bericht von ekathimerini.com vom 1. Juni basiert, geht hervor, dass dieser Bonus Syriza bei der Umrechnung des in der Umfrage erreichten Stimmenanteils in Sitze bereits mit einberechnet worden ist.

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