Auf den Teilnehmern am bevorstehenden EU-Gipfel
lastet ein hoher Erwartungsdruck. Im Vorfeld wurde er auch als Wachstumsgipfel
bezeichnet, weil es um eine Abkehr vom einseitigen Sparkurs geben soll bzw. um ergänzende
wachstumsfördernde Maßnahmen. Weil Zinsen und Risikoprämien für Staatsanleihen in
Spanien und Italien immer weiter steigen und sich gerade auch deswegen die Schuldenkrise
dort dramatisch verschärft, wird auch die Frage behandelt werden, wie die sich
weiter verschärfenden Finanzierungsprobleme der Krisenstaaten gelöst werden
können.
Speziell in den Krisenstaaten, aber auch mit
Europa insgesamt geht es insgesamt schuldenmäßig und wirtschaftlich weiter bergab
– trotz aller bereit gestellten Gelder, trotz aller ergriffenen Maßnahmen.
Dass der italienische Regierungschef Mario
Monti im Vorfeld den EU-Gipfel in Presse und Medien mit düsteren Warnungen zu
einem Schicksalsgipfel für die Rettung der Euro-Zone machte (1) und Bundeskanzlerin
Angela Merkel gestern gesagt haben soll, es werde keine Schuldengemeinschaft
geben, solange sie lebe (2), zeigt exemplarisch wie sehr überkreuz die Auffassungen
bezüglich geeigneter Maßnahmen liegen und wie festgefahren die Krisendebatte
der Euro-Retter tatsächlich ist. Die Nerven liegen blank.
Vielleicht sind das geeignete
Voraussetzungen für einen historischen EU-Gipfel. Unter Druck wurde ja in
Europa schon so manches möglich. Aber es sind keinesfalls gute Voraussetzungen für
einen Durchbruch im Kampf gegen die Krise und für Wachstum.
Warum nicht?
Die Beantwortung dieser Frage bedarf eines
kleinen Exkurses.
Dass die Märkte einwandfrei funktionieren
nehmen all jene an, die davon ausgehen, dass die Grundannahmen der ökonomischen
Theorien, und damit die Theorien selbst, nach denen wir Märkte über Dekaden
hinweg gefördert, entwickelt, mithin gestaltet und natürlich auch reguliert
bzw. dereguliert haben, richtig sind.
Wer so argumentiert, sieht die Märkte von
vornherein nicht als potenzielle Quelle der Probleme an, mit denen wir heute
konfrontiert sind.
Wer aus dieser Perspektive argumentiert,
wird deswegen auch zu dem Schluss gelangen müssen, dass die Schulden- und
Wachstumsprobleme einiger Krisenstaaten nur über den Ausstieg aus dem Euro
gelöst werden können oder, bei gewünschtem Verbleib im Euro, über eine
drastische, soziale und politische Spannungen verursachende Austeritätspolitik.
Er blendet weitestgehend aus, dass die
Schuldenprobleme in den Krisenstaaten infolge einer – möglicherweise strukturell
bedingt – eingeschränkten Effektivität der Märkte überhöht sein könnten. Ferner
geht er davon aus, dass allein Kosten und Preise für die nationale
Wettbewerbsfähigkeit maßgeblich sind. Insofern ist dann die Steigerung der nationalen
Wettbewerbsfähigkeit respektive die Auflösung der strukturell bedingten Leistungs-bilanzdefizite,
die ursächlich für die Schuldenprobleme sind, folgerichtig nur über eine
drastische Anpassung der Preise und Kosten nach unten möglich. Aus dieser
Perspektive gibt es nur zwei Lösungswege: Anpassung der Kosten und Preise nach
unten über Austeritätspolitik – bei dieser Variante bleiben Krisenstaaten im
Euro. Oder Ausstieg aus dem Euro und anschließende drastische Abwertung der
nationalen Währung.
Zur Erinnerung: Dieselbe wirtschaftsliberale/neoklassische
Theorie, aus der heute all dies so apodiktisch abgeleitet wird, hat sich
historisch betrachtet bereits zum zweiten Mal als vollkommen ungeeignet
erwiesen, die Finanzmarkt- und Weltwirtschaftskrise (ab 1929 und ab 2008) vorherzusehen
und zu erklären.
Wäre es darum nicht viel eher angebracht,
sie als Ursache anstatt als Hilfe für die Lösung der Probleme zu
betrachten? Wieso vertrauen wir noch immer darauf, dass die daraus abgeleiteten
Erklärungen uneingeschränkt richtig sind? Wieso kommen wir nicht auf den
Gedanken, dass wir uns mit dieser „Bauanleitung“ regelmäßig Märkte mit
eingebauten Konstruktionsfehlern erschaffen, was nach Ablauf einiger Dekaden
einen Systemkollaps bewirkt?
Damit dies – gerade im Vorfeld des
EU-Wachstumsgipfels – nicht als Votum für den Keynesianismus fehlinter-pretiert
wird, sei ergänzend Folgendes bemerkt:
Der Austeritätspolitik und der Konjunkturstimulierung
liegt im Kern dasselbe Verständnis von der Funktionsweise von Märkten zugrunde.
Vereinfacht ausgedrückt geht die – im Kern
wirtschaftsliberale – neoklassische Theorie, die nur die Angebotsseite (also
die Güter und Dienste anbietende Wirtschaft) betrachtet und adressiert, von der
Hypothese aus, dass Märkte prinzipiell selbstregulierend sind und von sich aus immer
zum Gleichgewicht streben. Es ist eine Modellwelt, in der im Wettbewerb stets nur
die Kosten und der Preis entscheiden und u. a. generell Rational-verhalten („homo
oeconomicus“) vorherrscht. Die daraus abgeleitete und auch auf die Austeritätspolitik
zutreffende politische Grundidee ist, die Wirtschaft von staatlicher Einschränkung
und Behinderung zu befreien, damit die Selbstregulierungskräfte des Marktes wirken
können und sich so ein Gleichgewicht einstellt bzw. die Wirtschaft auf einen
gleichgewichtigen Wachstumspfad zurückfindet.
Es ist eine die Wirtschaftsrealität nur
sehr schlecht abbildende Theorie.
Vereinfacht ausgedrückt vertritt der
Keynesianismus die Hypothese, dass es nachfragebedingt Situationen geben kann,
in denen die Wirtschaft aus dem Gleichgewicht oder besser gesagt die Konjunktur
ins Stocken gerät, was staatliches Eingreifen bzw. staatliche (und
geldpolitische) Impulse erforderlich macht. Es ist eine reine Makro-theorie. Keynes
hat keinen anderen „Bauplan“ für Märkte oder die Marktwirtschaft entwickelt,
sondern nur eine Anleitung für die Behandlung von Fehlern auf der Makroebene,
deren Eintreten der liberale neoklassische Bauplan nicht vorsieht – was ihn
dann ja auch zu der berühmten Aussage „In the long run we are all dead“
veranlasste. Seine Theorie stellt die liberale neoklassische Erklärung der
Funktionsweise von Märkten folglich nicht prinzipiell infrage, sondern – so
könnte man sagen – relativiert diese lediglich.
Wiederum vereinfacht ausgedrückt kann man sagen,
beide Ansätze gehen davon aus, dass die Krise vergleichbar mit einem entweder
langsam laufenden oder stotternden Motor über die Erhöhung der Spritzufuhr
gelöst werden kann. Der Unterschied besteht im Wesentlichen darin, wie dieser
zusätzliche Sprit generiert wird (durch Schrumpfung des Staates und der Kosten für
die Wirtschaft oder durch „deficit
spending“ und lockere Geldpolitik).
Ist aber die Erklärung unseres Wirtschaftsmotors
fehlerhaft, dann könnte es folglich möglich sein, dass die Motorprobleme (bzw.
die aktuelle Krise) gar nichts mit der Spritzufuhr zu tun haben, sondern ein
Motorschaden vorliegt, den es zu beheben gilt. Das Problem ist dann, dass wir
keinen zutreffenden Konstruktions- bzw. Bauplan haben und deswegen gezwungen
sind, die Fehler in dem Plan zu finden und zu korrigieren, bevor wir daran
gehen können, die Probleme mit entsprechenden Maßnahmen zu überwinden.
Das mit Blick auf die europäische Krise
vielleicht bedeutsamste Problem ist, dass in beiden theoretischen Ansätzen sich entwickelnde Märkte und
Volkswirtschaften nicht vorkommen und folglich auch nicht erklärt werden können.
Hiermit endet der kleine Exkurs.
Das ist sehr vereinfacht und recht
plakativ dargestellt. Aber es dürfte vielleicht verdeutlichen, wie wenig beide wirtschaftstheoretischen Ansätze und
Maßnahmen, die daraus abgeleitet und jetzt auf dem EU-Wachstumsgipfel erörtert
werden, letztlich zur Bewältigung der aktuellen Krise beitragen können.
Ob Austeritätspolitik oder
Konjunkturprogramme oder ein Mix aus beidem – nichts davon ändert etwas an den die
Krise antreibenden grundlegenden, marktbedingten
Problemen, die es laut klassischer und neoklassischer Wirtschaftstheorie
definitionsbedingt gar nicht geben kann.
So betrachtet liegt die Lösung, die auf
dem bevorstehenden EU-Gipfel mit Blick auf die Probleme der Euro-Zone und der
Europäischen Union als Wirtschafts- und Währungsraum gesucht werden soll, im
dichtesten Nebel verborgen – ein Nebel, den es nach herrschender ökonomischer und ökonomische Realität gewordener
Auffassung nicht gibt.
Weil niemand Nebel mag, wird auf dem
historischen EU-Gipfel auch nicht nach Lösungen gesucht werden, sondern nur
nach „lebensverlängernden“ Maßnahmen. Das wird von den Gipfelteilnehmern selbstverständlich
nicht so gesagt werden. Aber es war bisher bei allen auf EU-Krisengipfeln
beschlossenen Maßnahmen der Fall und es wird – angesichts des beschriebenen „blinden
Fleck“ der (beratenden Ökonomen und) Gipfelteilnehmer – auch dieses Mal nicht
anders sein.
Das ist tragisch. Denn die Probleme werden
sich gerade deswegen aller Voraussicht nach auch nach dem Gipfel weiter
verschärfen.
Was Europa fehlt, ist ein neuer „Bauplan“
für seinen Wirtschaftsraum. Denn nur ein als Ganzes wirtschaftlich
erfolgreiches Europa kann ein Europa sein, das wirtschaftlich und sozial
zusammenhält.
Es ist der falsche Ansatz zu sagen, das
gehe nicht. Denn wer es so sieht, ignoriert entweder die
wirtschafts-theoretischen Schwächen, die es zu überwinden gilt oder er will
schlicht Europa oder den Euro nicht – aus welchen Gründen auch immer. Der
zuletzt genannte Grund ist natürlich grundsätzlich zu akzeptieren. Andere Lösungen
aus wirtschaftstheoretischen Gründen für unmöglich zu erklären, greift indes nicht.
Natürlich werden auf dem EU-Gipfel kurzfristig
wirkende Maßnahmen gegen die Krise beschlossen werden müssen, um eine erneute Eskalation
der Krise zu verhindern und – einmal mehr – um Zeit zu gewinnen. Bisher wurde
die teuer erkaufte Zeit indes regelmäßig nicht dafür genutzt, den Problemen auf
den Grund zu gehen und sie an Ursachen zu bekämpfen. Das muss sich ändern, weil
wir langsam an Belastungsgrenzen stoßen – nicht nur in finanzieller Hinsicht.
Worauf sich Europa deswegen jetzt in
erster Linie verständigen müsste, ist ein wirtschaftspolitisches Leitbild, an
dem nicht nur auf europäischer Ebene, sondern vor allem auch auf
nationalstaatlicher und regionaler Ebene flexibel und eben nicht zentralistisch
alle die Wirtschaft betreffenden Maßnahmen ausgerichtet werden können. Wenn man
die Marktwirtschaft nicht abschaffen oder fortlaufend notdürftig reparieren
will, dann impliziert dies die Notwendigkeit, die Erklärungsdefizite und Fehler
des wirtschaftsliberal/neoklassischen Ansatzes, an dem wir uns bisher
orientiert haben, zu überwinden. Hier sind die Ökonomen gefordert. Institutionelle
Änderungen oder eine weitergehende politische Integration sind dafür –
zumindest zum gegebenen Zeitpunkt – nicht notwendig und sie fänden in der
Bevölkerung auch keine Zustimmung.
Europa hat – man glaubt es kaum, aber es
ist wahr – bisher gar kein wirtschaftspolitisches Leitbild. Stattdessen hat
jedes Land sein eigenes und danach zuhause wie auch in Brüssel agiert. Auch das
ist eine wichtige Ursache für die wirtschaftlichen Probleme und
Ungleichgewichte innerhalb der EU und ebenso für die anhaltenden
Schwierigkeiten bei der Verständigung auf einen europäischen Krisenkurs.
Was aktuell versucht wird, ist, die
relative Stärke bzw. Schwäche von Volkswirtschaften für die Durchsetzung eines
der bisher auf nationalstaatlicher Ebene verfolgten wirtschaftspolitischen
Leitbilder auf europäischer Ebene zu nutzen. Dass in Europa bei der
Krisenbekämpfung verstärkt auf Austeritätspolitik gesetzt wurde, ist die
sichtbare Konsequenz dessen. Es ist absehbar, dass Frankreich bestrebt sein
wird, dies zu ändern, weil es traditionell kein wirtschaftsliberal geprägtes
Leitbild verfolgt, sondern stärker auf Intervention (sprich klassische Industriepolitik (3))
setzt. Eine Lösung wäre das für Europa indes auch nicht, weil es im Kern – wie oben
im Zusammenhang mit Keynes bereits erklärt – auf dem neoklassischen
Erklärungsansatz der Märkte aufbaut und insofern dieselben grundlegenden
Schwächen aufweist. Im Endeffekt liefe das nur auf anders geartete
Reparatur-versuche mit derselben fehlerhaften „Bauanleitung“ hinaus.
Es gibt viel zu tun, liebe
Gipfelteilnehmer. Packen Sie es bitte endlich an.
Hat die Ökonomie wirklich versagt?
AntwortenLöschenDie Frage die ich mir zuallererst stellen möchte ist doch: Was ist denn der eigentliche Grund für ein Wirtschaftsystem einer Gesellschaft?
Beantwortet man diese Frage aus einer Gesellschaftstheoretischen Warte aus, dann muss die Antwort sein:
"Ziel eines Wirtschaftssystems ist die effektive und gerechte Verteilung der produzierten Güter und Dienstleistungen im Sinne aller Mitglieder einer Gesellschaft."
In dieser Hinsicht versagt das herrschende Wirtschaftssystem der westlichen Welt vollkommen. Die Verteilung ist nicht gerecht und in keinster Weise im Sinne des Gemeinwohls. Sie ist nur darin effektiv Vermögende noch reicher zu machen.
Das dies so ist kann kein Zufall sein, sondern muss das Ergebnis einer Zielgerichteten Politk sein.
Diejenigen die über Geld und damit Macht verfügen sind offensichtlich dazu in der Lage, die Verteilung der Reichtümer zu ihren Gunsten zu beeinflussen, genau dies ist was meines Erachtens schon seit 150 Jahren passiert.
Die derzeitige Situation ist für mich nur dadurch erklärbar, dass die Ideologie der Mainstream Ökonomen niemals versuchte den Nebel zu lichten, sondern im Gegenteil, ihn mit den Nebelkerzen der Neoklassik zu verdichten.
Gerne verwendete Nebelkerzen die vom Versagen des Wirtzschaftsystems bei seiner eigentlichen Aufgabe ablenken sollen ist andere Aufgaben des Wirtschaftssystems voranzustellen und diese als Alternativlos darzustellen:
"Wachstum Schaffen", "Innovation beflügeln", "Arbeitsplätze sichern", "Wettbewerbsfähigkeit verbessern" usw.
Wenn ich ein Schiff kaufen will dann schaue ich doch nicht zuerst darauf ob es tolle Kabinen hat, einen Salon, eine Promenadendeck etc., ich will als allererstes wissen ob es Schwimmt und auch wenn ich in schwere See komme nicht untergeht.
Hat denn die Ökonomie jemals versucht eine Antwort darauf zu finden wie man eine gerechte und effektive Verteilung der Leistungen einer Gesellschaft erreichen kann? Meines Wissens steht das noch aus und sie hat uns immer nur die Titanic als Unsinkbar verkauft.
Die Ökonomie diente in ihrer Historie immer der wissenschaftlichen / ideologischen Legitimation der Bereicherung weniger. In dieser Hinsicht war die neoliberale Ideologie überaus erfolgreich, Niemals waren Reiche so reich und die Akzeptanz dieses Zustandes so verbreitet wie heute.
Ob dieses Erfolges wird natürlich weiterhin auf diese Ideologie gesetzt.
Auf eine Änderung von Oben in Form eines "Krisengipfels" werden wir deswegen vergeblich warten.
* Die Tatanic hat natürlich streng getrennte Decks, oben dürfen die Reichen die Sonne geniessen während unten die Passagiere zweiter und dritter Klasse in ihren finsteren und beengten Kabinen mitreisen dürfen.
AntwortenLöschenKommt es dann zum Schiffbruch werden sich die Reichen in die viel zu wenigen Rettungsboote begeben, der Rest darf absaufen.