Mittwoch, 18. Juli 2012

Der Libor-Skandal – eine logische industriepolitische Konsequenz?


Der weltweite Manipulationsskandal um die Referenzzinssätze Libor, Euribor und Tibor zieht immer weitere Kreise. Erst jetzt dürfte für die meisten sukzessive erkennbar werden, wie simpel, wie effektiv und vor allem wie umfassend die Manipulation durch Großbanken gewesen sein muss. Im Mittelpunkt stehen einmal mehr die Geschäfte mit Derivaten oder anders ausgedrückt mit Wetten. Es handelt sich um Wetten, die zu einem großen Teil keinen Bezug mehr zu realwirtschaftlichen Vorgängen haben. Angeboten werden Wetten auf praktisch alles, was Profit verspricht. Und wie die Erfahrung es lehrt, gewinnt – wie im Spielcasino – am Ende immer die Bank.
Das mag eine sehr pointierte und dem gesamten Bankensektor nicht gerecht werdende Sicht der Dinge sein. Denn selbstverständlich gibt es sehr viele, verantwortungs- und risikobewusst handelnde Banken. Es stellt sich jetzt aber die Frage, ob und wenn ja, inwieweit dies auf das Segment der global operierenden Großbanken zutrifft, die die Finanzmärkte dominieren und die auch im Zentrum der politischen Bemühungen um die Abwendung eines neuen Finanzmarktcrashs, einer neuerlichen Vertiefung der Finanzmarktkrise stehen, die letztlich nie beendet werden konnte. Sie stellt sich deswegen, weil sich die weltweiten Ermittlungen im Zinsmanipulationsskandal auf nur etwa zwanzig Großbanken richten. Und sie stellt sich auch deswegen, weil – ohne eine direkte Verbindung herstellen oder unterstellen zu wollen – es auch nur etwa zwanzig Banken sind, die den globalen Derivatemarkt unter sich ausmachen.
Allein beim Blick auf das Volumen des globalen Derivatemarktes, der keineswegs allein betroffen ist, wird deutlich, um welche Dimensionen es dabei geht. Während die Weltwirtschaftsleistung (in BIP) laut den Daten des Internationalen Währungsfonds 2011 rund 69 660 Milliarden Dollar betrug, schätzte die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) das Volumen des globalen Derivatemarktes Ende 2011 auf etwa des zehnfache des globalen BIP, nämlich auf 647 000 Milliarden Dollar. (1) Andere Schätzungen gehen von noch weit höheren Zahlen aus. Etwas anderes als Schätzungen gibt es auch nicht, denn der Markt ist intransparent und weitgehend unreguliert.
Es ist insofern nicht übertrieben, wenn jetzt schon Offizielle und Kommentatoren sagen, ein größerer Fall als der der Zinsmanipulation sei kaum vorstellbar. (2) (3) Und das obwohl zum gegenwärtigen Zeitpunkt niemand seriös abschätzen kann, wie groß der dadurch angerichtete Schaden wirklich ist.
Der Zweck der Zinsmanipulation war es, zu gewinnen. Im Umkehrschluss ergibt sich aus den vorangegangenen Ausführungen eine andere Frage, denn die globalen Ermittlungen dürften dieses Zinskartell – egal welche Dimension es am Ende nachweislich wirklich hatte – beenden. Sie lautet angesichts der Dimension des Derivate-marktes, des hohen Anteils von Zinsderivaten und der geringen Zahl von Großbanken, die den Markt dominieren: Erleben wir jetzt eine schleichende Implosion des gigantischen Derivatemarktes?
Man wird sich vor Augen führen müssen, dass das Finanzmarktgeschehen seit Jahren immer mehr den realwirt-schaftlichen Bezug verloren hat. Das Vehikel, das dies ermöglichte, waren Derivate, Wettgeschäfte. Die hohen Renditen, die im Finanzsektor erzielt wurden, wären andernfalls nicht möglich gewesen.
Dass dieser Weg beschritten wurde, so kann man argumentieren, hängt nicht unwesentlich mit den Wachstums-problemen der Realwirtschaft zusammen, die wir seit Jahren wahrnehmen können und die nicht nur ungelöst sind, sondern sich bedingt durch die Ausbreitung und Vertiefung rezessiver Entwicklungen jetzt wieder verschärfen. Mit Fusionen, Übernahmen und vor allem auch mit immer neuen Kostensenkungsprogrammen, die aber zuletzt immer stärker die unternehmerische Substanz aushöhlten, wurden diese Probleme von den börsennotierten Unternehmen lediglich kaschiert. Es sind aus diesem Grund vielfach zunehmend wackelige Beine, auf denen gerade auch Global Player stehen.
Freilich ist dieser Weg für den Finanzsektor und insbesondere für die Groß- und Investmentbanken ein besonders profitträchtiger gewesen. Aber mit der Finanzmarkt- und Weltwirtschaftskrise nach der Lehman-Pleite, ist dieses Geschäft – in der Terminologie der beliebten BCG-Portfolio-Matrix - eindeutig keine „Cash Cow“ mehr und schon gar kein „(Rising) Star“. Im Gegenteil deutet die neue Welle des umfangreichen Personalabbaus bei Konzernen darauf hin, dass sie der wirtschaftlichen Entwicklung zwar Rechnung tragen. Gleichwohl ändern sie damit am grundlegenden Problem fehlender Wachstumsperspektiven und realistischer Wachstumskonzepte nichts. Anschauliche aktuelle Beispiele sind PSA Peugeot Citroën (4) (5) und Opel (6). Die Luft ist einfach dünner geworden. Irgendwann wird sie für einige – wie schon 2008 – wieder zu dünn sein.
Auch für die Global Player wachsen die Bäume nicht mehr weiter in den Himmel. Im Gegenteil. Nicht nur den Global Playern in der Realwirtschaft, sondern vor allem auch denen im Bankensektor brechen sukzessive die profitträchtigen Geschäftsfelder weg. Und so ist es nicht überraschend, dass sich jetzt beispielsweise Goldman Sachs bemüht, einen Ausweg zu finden. Der Star des Investmentbankings will ein zweites Standbein im klassischen Bankgeschäft aufbauen und gründet dafür (intern) eine Privatbank, die vermögende Kunden attrahieren und auch Kredite vergeben soll. (7)
Um es auf den Punkt zu bringen: Die Entwicklung auf den globalen Märkten stellt bisherige Geschäftsmodelle infrage. Das scheint vordergründig primär die global operierenden Banken zu betreffen. Im Kern betrifft es indes Global Player in praktisch allen Branchen.
Der drastische Einbruch der Weltwirtschaft nach der Lehman-Pleite, den mit Umsatzrückgängen von bis zu zwanzig Prozent und mehr insbesondere die Global Player in der Realwirtschaft zu spüren bekamen, ging eben nicht allein auf das Konto der Finanzmarktkrise. Es war und ist ein Fehler, von dieser Annahme auszugehen. Die Gefahr, dass sich dies wiederholt, ist folglich auch nicht gebannt. Mit Geldpolitik und generell mit auf die Stabili-sierung der Finanzmärkte gerichteten Maßnahmen, das heißt mit Maßnahmen, die die Finanzmarktstrukturen im Kern unangetastet lassen, ändert sich daran nichts.
Ironischerweise sind es vielleicht gerade die mittelbaren Folgewirkungen der Ermittlungen des Zinsmanipulations-skandals, die uns zwingen werden, dies zu erkennen. Denn eine schleichende Implosion des Derivatemarktes würde sukzessive das sichtbar werden lassen, was dessen Erfolg bisher verhältnismäßig effektiv kompensierte: die tatsächliche Verfassung bzw. die tatsächlichen Probleme der globalen realwirtschaftlichen Märkte. Hier lauern für viele möglicherweise erschreckende Erkenntnisse.
Der Versuch einer Prognose dessen, was wir noch zu sehen bekommen, wird dort ansetzen müssen, wo wir nicht zu suchen gewohnt sind. Bei dem von den Industriestaaten seit Dekaden erfolgreich verfolgten „Geschäftsmodell“.
Kurz gefasst besteht dies darin, durch entsprechende Rahmenbedingungen und Förderungen (M&A-Regeln, Steuergesetzgebung, FuE-Förderung, öffentliche Aufträge etc.) Entstehung, Wachstum und internationale Wettbewerbsfähigkeit von Großunternehmen zu unterstützen. Als eine weitere, dafür erforderliche Voraussetzung wurde und wird die Existenz von Großbanken angesehen, die Großunternehmen global angemessen unterstützen und begleiten können.
Erfolgreich war dies vereinfacht ausgedrückt bis zu der Phase, in der die Realwirtschaft – wie oben angesprochen – für den Finanzsektor keine ausreichenden Renditeperspektiven mehr zu bieten hatte.
Die Idee, dass es volkswirtschaftlich sinnvoll ist, so vorzugehen, geht auf die Hypothese von der grundsätzlichen Überlegenheit der Großunternehmung zurück, Innovationen hervorzubringen und damit Wirtschaftswachstum zu generieren. Diese Hypothese ist Basis eines entsprechenden Wettbewerbsleitbildes, an dem sich die Industrie-staaten dabei seit etwa Mitte der 60er Jahre orientieren. Die Politik selbst, die sich daran orientiert und die beinhaltet, was gerade dargelegt wurde, heißt: Industriepolitik. Genau genommen ist es eine spezifische Form von Wirtschafts- und Industriepolitik. (siehe dazu hier: (8)) Sie fokussiert Großunternehmen (Formung von „National Champions“) und setzt auf die Erwirtschaftung von Skalenerträgen (also größenbedingten Vorteilen), Effizienzsteigerung und Kostensenkung. Sie tut dies, weil dies infolge der zugrundeliegenden wirtschaftstheore-tischen Sicht als Voraussetzung für die Generierung von Wirtschaftswachstum und Beschäftigung angesehen wird.
In der Vergangenheit hat sich diese These bewahrheitet – und die Rechnung ging über viele Jahre auf. Seit einer Reihe von Jahren – nicht erst seit der Hypotheken- und Finanzmarktkrise – ist das nicht mehr der Fall. Die entsprechende ökonomische Lehrauffassung und Schule ist nicht zuletzt deswegen selbst in die Krise geraten. Die durch die beschriebene Politik geschaffenen Strukturen in der Wirtschaft und auf den Finanzmärkten erweisen sich nun immer mehr selbst als höchst problematisch. Problematisch sind sie nicht nur angesichts des anhaltend schwachen Wachstums und nicht nur wegen der desolaten Situation auf dem Arbeitsmarkt vieler Volkswirt-schaften (u.a. auch in den USA), sondern auch mit Blick auf das Ausmaß an wettbewerbsbeschränkendem Verhalten (z.B. Intel, Microsoft (9) u.a.), Lobbyismus, Korruption und Betrug – wie beim Zinsmanipulationsskandal.
Damit schließt sich der Kreis. Worüber wir zu reden haben werden, wenn wir die Krise überwinden wollen, ist, wie wir den Status Quo verändern müssen. Ihn erhalten zu wollen, ist keine Option mehr und zwar auch deswegen nicht, weil die bisher verfolgten Geschäftsmodelle der Global Player entweder nicht mehr aufgehen (z.B. Banken/ Libor-Skandal) oder an ihre Grenzen gestoßen sind. Neue Wachstums- und Beschäftigungsimpulse werden davon realistische betrachtet nicht mehr ausgehen können.
Vom bevorstehenden „Dinosauriersterben“ zu sprechen, ist wahrscheinlich dennoch eine ungeeignete Metapher. Aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung und wegen der Bekämpfung regel- sowie mithin gesetzeswidrigen Geschäftsgebarens ist jedoch zu erwarten, dass das Geschäft der „Champions“ mithin beträchtlich (und vielleicht schneller als uns lieb ist) schrumpfen wird.
Wir werden also – ebenso wie beispielsweise jetzt Goldman Sachs – unser volkswirtschaftliches und globales „Geschäftsmodell“ ändern und ein zweites Standbein aufbauen müssen. Standen über etwa vier Dekaden hinweg Großunternehmen in dessen Zentrum, so wird sich der politische Fokus zwangsläufig stärker auf kleine und mittelgroße Unternehmen und Banken richten müssen oder anders ausgedrückt auf dynamische Vielfalt. Das geht nicht von heute auf morgen, aber wir sollten damit aus Gründen der volkswirtschaftlichen Stabilität besser heute als morgen beginnen. Und wir sollten aus gegebenem Anlass beim Finanzsektor und bei den Banken beginnen, die Welt wieder auf sichere Füße zu stellen.
Der Zinsmanipulationsskandal ist letztlich nichts anderes als die logische letzte Konsequenz einer über vier Dekaden hinweg verfolgten, aber mit konzeptionell schwerwiegenden Fehlern behafteten und nicht zu Ende gedachten Form von Industriepolitik. Es wäre deswegen ein fataler Fehler, immer neue Rettungsschirme zu spannen oder zu konzipieren, wenn diese letztlich nur dazu dienen, so weiter machen zu können wie bisher – in der Politik und in den von dieser adressierten Teilen des Finanzsektors. Es wäre auch deswegen ein Fehler, weil immer weniger klar ist wer das wirklich entscheidet.

2 Kommentare:

  1. "Das mag eine sehr pointierte und dem gesamten Bankensektor nicht gerecht werdende Sicht der Dinge sein.

    Hier irrt der Autor! Mit Ausnahme der Raiffeisen- Volks- und Vereinsbanken und der Sparkassen ist das gesamte Banken(un)wesen so 'was von überflüssig, überflüssiger geht’s gar nicht. Was sollte den Bankkunden, der einen Kredit begehrt, daran hindern sich einen Genossenschaftsanteil an „seiner“ Bank für (verzinste) 100 €uronen zu kaufen? Das Bankgeschäft ist ein Dienstleistungsgeschäft. Punkt!

    Bitte hundertmal abschreiben ;-)

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  2. Hallo Herr Vogel,

    ich verstehe Ihre Grimm, aber genau diesen Teil des Kreditwesens - die Regionalbanken (z.B. in den USA), die Sparkassen und die Genossenschaftsbanken - wollte ich mit diesem Satz von den Vorwürfen ausnehmen.

    Ich denke, darin sind wir uns völlig einig (und ich hoffe deswegen, um die "Strafarbeit" herum zu kommen).

    Viele Grüße
    SLE

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