Der
weltweite Manipulationsskandal um die Referenzzinssätze Libor, Euribor und
Tibor zieht immer weitere Kreise. Erst jetzt dürfte für die meisten sukzessive
erkennbar werden, wie simpel, wie effektiv und vor allem wie umfassend die
Manipulation durch Großbanken gewesen sein muss. Im Mittelpunkt stehen einmal
mehr die Geschäfte mit Derivaten oder anders ausgedrückt mit Wetten. Es handelt
sich um Wetten, die zu einem großen Teil keinen Bezug mehr zu
realwirtschaftlichen Vorgängen haben. Angeboten werden Wetten auf praktisch alles,
was Profit verspricht. Und wie die Erfahrung es lehrt, gewinnt – wie im
Spielcasino – am Ende immer die Bank.
Das
mag eine sehr pointierte und dem gesamten Bankensektor nicht gerecht werdende
Sicht der Dinge sein. Denn selbstverständlich gibt es sehr viele,
verantwortungs- und risikobewusst handelnde Banken. Es stellt sich jetzt aber
die Frage, ob und wenn ja, inwieweit dies auf das Segment der global
operierenden Großbanken zutrifft, die die Finanzmärkte dominieren und die auch
im Zentrum der politischen Bemühungen um die Abwendung eines neuen
Finanzmarktcrashs, einer neuerlichen Vertiefung der Finanzmarktkrise stehen,
die letztlich nie beendet werden konnte. Sie stellt sich deswegen, weil sich
die weltweiten Ermittlungen im Zinsmanipulationsskandal auf nur etwa zwanzig Großbanken
richten. Und sie stellt sich auch deswegen, weil – ohne eine direkte Verbindung
herstellen oder unterstellen zu wollen – es auch nur etwa zwanzig Banken sind,
die den globalen Derivatemarkt unter sich ausmachen.
Allein
beim Blick auf das Volumen des globalen Derivatemarktes, der keineswegs allein
betroffen ist, wird deutlich, um welche Dimensionen es dabei geht. Während die
Weltwirtschaftsleistung (in BIP) laut den Daten des Internationalen
Währungsfonds 2011 rund 69 660 Milliarden Dollar betrug, schätzte die Bank
für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) das Volumen des globalen Derivatemarktes
Ende 2011 auf etwa des zehnfache des globalen BIP, nämlich auf 647 000
Milliarden Dollar. (1) Andere Schätzungen gehen von noch weit höheren Zahlen
aus. Etwas anderes als Schätzungen gibt es auch nicht, denn der Markt ist
intransparent und weitgehend unreguliert.
Es
ist insofern nicht übertrieben, wenn jetzt schon Offizielle und Kommentatoren
sagen, ein größerer Fall als der der Zinsmanipulation sei kaum vorstellbar. (2)
(3) Und das obwohl zum gegenwärtigen Zeitpunkt niemand seriös abschätzen kann,
wie groß der dadurch angerichtete Schaden wirklich ist.
Der
Zweck der Zinsmanipulation war es, zu gewinnen. Im Umkehrschluss ergibt sich aus
den vorangegangenen Ausführungen eine andere Frage, denn die globalen
Ermittlungen dürften dieses Zinskartell – egal welche Dimension es am Ende
nachweislich wirklich hatte – beenden. Sie lautet angesichts der Dimension des
Derivate-marktes, des hohen Anteils von Zinsderivaten und der geringen Zahl von
Großbanken, die den Markt dominieren: Erleben wir jetzt eine schleichende
Implosion des gigantischen Derivatemarktes?
Man
wird sich vor Augen führen müssen, dass das Finanzmarktgeschehen seit Jahren
immer mehr den realwirt-schaftlichen Bezug verloren hat. Das Vehikel, das dies
ermöglichte, waren Derivate, Wettgeschäfte. Die hohen Renditen, die im
Finanzsektor erzielt wurden, wären andernfalls nicht möglich gewesen.
Dass
dieser Weg beschritten wurde, so kann man argumentieren, hängt nicht
unwesentlich mit den Wachstums-problemen der Realwirtschaft zusammen, die wir seit
Jahren wahrnehmen können und die nicht nur ungelöst sind, sondern sich bedingt
durch die Ausbreitung und Vertiefung rezessiver Entwicklungen jetzt wieder verschärfen.
Mit Fusionen, Übernahmen und vor allem auch mit immer neuen
Kostensenkungsprogrammen, die aber zuletzt immer stärker die unternehmerische
Substanz aushöhlten, wurden diese Probleme von den börsennotierten Unternehmen
lediglich kaschiert. Es sind aus diesem Grund vielfach zunehmend wackelige
Beine, auf denen gerade auch Global Player stehen.
Freilich
ist dieser Weg für den Finanzsektor und insbesondere für die Groß- und
Investmentbanken ein besonders profitträchtiger gewesen. Aber mit der
Finanzmarkt- und Weltwirtschaftskrise nach der Lehman-Pleite, ist dieses
Geschäft – in der Terminologie der beliebten BCG-Portfolio-Matrix - eindeutig
keine „Cash Cow“ mehr und schon gar kein „(Rising) Star“. Im Gegenteil deutet
die neue Welle des umfangreichen Personalabbaus bei Konzernen darauf hin, dass
sie der wirtschaftlichen Entwicklung zwar Rechnung tragen. Gleichwohl ändern
sie damit am grundlegenden Problem fehlender Wachstumsperspektiven und
realistischer Wachstumskonzepte nichts. Anschauliche aktuelle Beispiele sind
PSA Peugeot Citroën (4) (5) und Opel (6). Die Luft ist einfach dünner geworden.
Irgendwann wird sie für einige – wie schon 2008 – wieder zu dünn sein.
Auch
für die Global Player wachsen die Bäume nicht mehr weiter in den Himmel. Im
Gegenteil. Nicht nur den Global Playern in der Realwirtschaft, sondern vor
allem auch denen im Bankensektor brechen sukzessive die profitträchtigen
Geschäftsfelder weg. Und so ist es nicht überraschend, dass sich jetzt
beispielsweise Goldman Sachs bemüht, einen Ausweg zu finden. Der Star des
Investmentbankings will ein zweites Standbein im klassischen Bankgeschäft aufbauen
und gründet dafür (intern) eine Privatbank, die vermögende Kunden attrahieren
und auch Kredite vergeben soll. (7)
Um es
auf den Punkt zu bringen: Die Entwicklung auf den globalen Märkten stellt
bisherige Geschäftsmodelle infrage. Das scheint vordergründig primär die global
operierenden Banken zu betreffen. Im Kern betrifft es indes Global Player in
praktisch allen Branchen.
Der
drastische Einbruch der Weltwirtschaft nach der Lehman-Pleite, den mit
Umsatzrückgängen von bis zu zwanzig Prozent und mehr insbesondere die Global
Player in der Realwirtschaft zu spüren bekamen, ging eben nicht allein auf das
Konto der Finanzmarktkrise. Es war und ist ein Fehler, von dieser Annahme auszugehen.
Die Gefahr, dass sich dies wiederholt, ist folglich auch nicht gebannt. Mit
Geldpolitik und generell mit auf die Stabili-sierung der Finanzmärkte
gerichteten Maßnahmen, das heißt mit Maßnahmen, die die Finanzmarktstrukturen im
Kern unangetastet lassen, ändert sich daran nichts.
Ironischerweise
sind es vielleicht gerade die mittelbaren Folgewirkungen der Ermittlungen des
Zinsmanipulations-skandals, die uns zwingen werden, dies zu erkennen. Denn eine
schleichende Implosion des Derivatemarktes würde sukzessive das sichtbar werden
lassen, was dessen Erfolg bisher verhältnismäßig effektiv kompensierte: die
tatsächliche Verfassung bzw. die tatsächlichen Probleme der globalen realwirtschaftlichen
Märkte. Hier lauern für viele möglicherweise erschreckende Erkenntnisse.
Der
Versuch einer Prognose dessen, was wir noch zu sehen bekommen, wird dort
ansetzen müssen, wo wir nicht zu suchen gewohnt sind. Bei dem von den
Industriestaaten seit Dekaden erfolgreich verfolgten „Geschäftsmodell“.
Kurz
gefasst besteht dies darin, durch entsprechende Rahmenbedingungen und
Förderungen (M&A-Regeln, Steuergesetzgebung, FuE-Förderung, öffentliche
Aufträge etc.) Entstehung, Wachstum und internationale Wettbewerbsfähigkeit von
Großunternehmen zu unterstützen. Als eine weitere, dafür erforderliche
Voraussetzung wurde und wird die Existenz von Großbanken angesehen, die
Großunternehmen global angemessen unterstützen und begleiten können.
Erfolgreich
war dies vereinfacht ausgedrückt bis zu der Phase, in der die Realwirtschaft –
wie oben angesprochen – für den Finanzsektor keine ausreichenden
Renditeperspektiven mehr zu bieten hatte.
Die
Idee, dass es volkswirtschaftlich sinnvoll ist, so vorzugehen, geht auf die
Hypothese von der grundsätzlichen Überlegenheit der Großunternehmung zurück,
Innovationen hervorzubringen und damit Wirtschaftswachstum zu generieren. Diese
Hypothese ist Basis eines entsprechenden Wettbewerbsleitbildes, an dem sich die
Industrie-staaten dabei seit etwa Mitte der 60er Jahre orientieren. Die Politik
selbst, die sich daran orientiert und die beinhaltet, was gerade dargelegt
wurde, heißt: Industriepolitik. Genau genommen ist es eine spezifische Form von
Wirtschafts- und Industriepolitik. (siehe dazu hier: (8)) Sie fokussiert
Großunternehmen (Formung von „National Champions“) und setzt auf die
Erwirtschaftung von Skalenerträgen (also größenbedingten Vorteilen),
Effizienzsteigerung und Kostensenkung. Sie tut dies, weil dies infolge der
zugrundeliegenden wirtschaftstheore-tischen Sicht als Voraussetzung für die
Generierung von Wirtschaftswachstum und Beschäftigung angesehen wird.
In
der Vergangenheit hat sich diese These bewahrheitet – und die Rechnung ging über
viele Jahre auf. Seit einer Reihe von Jahren – nicht erst seit der Hypotheken-
und Finanzmarktkrise – ist das nicht mehr der Fall. Die entsprechende
ökonomische Lehrauffassung und Schule ist nicht zuletzt deswegen selbst in die
Krise geraten. Die durch die beschriebene Politik geschaffenen Strukturen in
der Wirtschaft und auf den Finanzmärkten erweisen sich nun immer mehr selbst
als höchst problematisch. Problematisch sind sie nicht nur angesichts des
anhaltend schwachen Wachstums und nicht nur wegen der desolaten Situation auf
dem Arbeitsmarkt vieler Volkswirt-schaften (u.a. auch in den USA), sondern auch
mit Blick auf das Ausmaß an wettbewerbsbeschränkendem Verhalten (z.B. Intel,
Microsoft (9) u.a.), Lobbyismus, Korruption und Betrug – wie beim
Zinsmanipulationsskandal.
Damit
schließt sich der Kreis. Worüber wir zu reden haben werden, wenn wir die Krise
überwinden wollen, ist, wie wir den Status Quo verändern müssen. Ihn erhalten
zu wollen, ist keine Option mehr und zwar auch deswegen nicht, weil die bisher
verfolgten Geschäftsmodelle der Global Player entweder nicht mehr aufgehen (z.B.
Banken/ Libor-Skandal) oder an ihre Grenzen gestoßen sind. Neue Wachstums- und
Beschäftigungsimpulse werden davon realistische betrachtet nicht mehr ausgehen
können.
Vom
bevorstehenden „Dinosauriersterben“ zu sprechen, ist wahrscheinlich dennoch eine
ungeeignete Metapher. Aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung und wegen der
Bekämpfung regel- sowie mithin gesetzeswidrigen Geschäftsgebarens ist jedoch zu
erwarten, dass das Geschäft der „Champions“ mithin beträchtlich (und vielleicht
schneller als uns lieb ist) schrumpfen wird.
Wir
werden also – ebenso wie beispielsweise jetzt Goldman Sachs – unser
volkswirtschaftliches und globales „Geschäftsmodell“ ändern und ein zweites
Standbein aufbauen müssen. Standen über etwa vier Dekaden hinweg
Großunternehmen in dessen Zentrum, so wird sich der politische Fokus zwangsläufig
stärker auf kleine und mittelgroße Unternehmen und Banken richten müssen oder
anders ausgedrückt auf dynamische Vielfalt. Das geht nicht von heute auf
morgen, aber wir sollten damit aus Gründen der volkswirtschaftlichen Stabilität
besser heute als morgen beginnen. Und wir sollten aus gegebenem Anlass beim
Finanzsektor und bei den Banken beginnen, die Welt wieder auf sichere Füße zu
stellen.
Der
Zinsmanipulationsskandal ist letztlich nichts anderes als die logische letzte Konsequenz
einer über vier Dekaden hinweg verfolgten, aber mit konzeptionell schwerwiegenden
Fehlern behafteten und nicht zu Ende gedachten Form von Industriepolitik. Es
wäre deswegen ein fataler Fehler, immer neue Rettungsschirme zu spannen oder zu
konzipieren, wenn diese letztlich nur dazu dienen, so weiter machen zu können
wie bisher – in der Politik und in den von dieser adressierten Teilen des
Finanzsektors. Es wäre auch deswegen ein Fehler, weil immer weniger klar ist
wer das wirklich entscheidet.
"Das mag eine sehr pointierte und dem gesamten Bankensektor nicht gerecht werdende Sicht der Dinge sein.
AntwortenLöschenHier irrt der Autor! Mit Ausnahme der Raiffeisen- Volks- und Vereinsbanken und der Sparkassen ist das gesamte Banken(un)wesen so 'was von überflüssig, überflüssiger geht’s gar nicht. Was sollte den Bankkunden, der einen Kredit begehrt, daran hindern sich einen Genossenschaftsanteil an „seiner“ Bank für (verzinste) 100 €uronen zu kaufen? Das Bankgeschäft ist ein Dienstleistungsgeschäft. Punkt!
Bitte hundertmal abschreiben ;-)
Hallo Herr Vogel,
AntwortenLöschenich verstehe Ihre Grimm, aber genau diesen Teil des Kreditwesens - die Regionalbanken (z.B. in den USA), die Sparkassen und die Genossenschaftsbanken - wollte ich mit diesem Satz von den Vorwürfen ausnehmen.
Ich denke, darin sind wir uns völlig einig (und ich hoffe deswegen, um die "Strafarbeit" herum zu kommen).
Viele Grüße
SLE