Montag, 11. November 2013

Bekämpft die EZB echte Deflationsgefahren oder echte Erfolge der Manipulationsbekämpfung?



In den USA sinkt die Inflationsrate und die Fed vertagt ein ums andere Mal die vor Monaten angekündigte Straffung ihres ultralockeren geldpolitischen Kurses. In Europa geht die Inflation ebenfalls zurück und aus Sorge vor Deflation hat die EZB jetzt ihre Geldpolitik weiter gelockert, indem sie den Leitzins auf 0,25 Prozent senkte. Japans Notenbanker sind besorgt, die Inflation könnte trotz ultralockerer Geldpolitik nicht stark genug steigen und sinnieren über eine weitere Lockerung.

Inflation scheint Mangelware geworden zu sein.

Immer wird die Lockerung der Geldpolitik von den Notenbanken vor allem damit begründet, dass dies für die Erholung der Wirtschaft notwendig sei.

Doch auch an der wirtschaftlichen Erholung gemessen ist die Geldpolitik offenbar nie locker genug.

Notenbanker mit Tunnelblick

Die Frage, warum es nie genug ist, wird im Grund nicht bzw. nur mit einem Tunnelblick erörtert. Auf dem Radar ist nur das, was gemäß der Annahmen und Modelle, auf die sich die Geldpolitik stützt, drauf sein soll. Das heißt, die Richtigkeit der Annahmen, die den geldpolitischen Entscheidungen zugrunde liegen, wird nicht auf den Prüfstand gestellt. Stattdessen interpretiert man lieber die Realität annahmengemäß um, frei nach dem Motto: „Der Notenbanker hat immer Recht!“
EZB-Direktoriumsmitglied Benoît Cœuré geht beispielsweise so weit zu sagen, höhere Leitzinsen würden dem Sparer schaden. (1) Seine Begründung: Angesichts der jüngsten, tiefen Rezession und der Fragmentierung des Finanzmarktes im Euroraum seien niedrige Leitzinsen ein Instrument, das zur Wahrung der Preisstabilität eingesetzt werde und Preisstabilität sei eine Grundvoraussetzung, um die Konjunktur wieder auf einen nach-haltigen Wachstumspfad zu bringen. „Höhere Leitzinsen hätten die Rezession verschärft, das Einsetzen einer Erholung verzögert und zu deflationären Risiken beigetragen.“ (2)

Mit anderen Worten: Es ist undenkbar, dass das Befüllen eines Fasses mit dem Geldschlauch nicht zum gewünschten Ergebnis führen wird. Denn Löcher kommen in der Notenbanktheorie der Fässer nicht vor.

Wohin das viele Geld der Notenbanker verschwindet

Man muss wohl ein Notenbanker sein, um daran glauben zu können. Für alle anderen bleibt die Frage vordringlich, wozu es führt, das fortgesetzte Befüllen der Märkte mit dem Geldschlauch. Hinweise gibt es genug. Ein paar Beispiele:

JPMorgan schätzt, dass aktuell 66.000 Milliarden Dollar Liquidität durch die Finanzmärkte schwappen, 4,6 Prozent mehr als Anfang des Jahres und ein Rekordwert. (3) Das wäre dann nicht viel weniger als der IWF in seiner Schätzung für die diesjährige Weltwirtschaftsleistung angibt: 73.400 Milliarden Dollar. Für wen nicht evident ist, wieso das für nachhaltiges Wachstum erforderlich und wahrscheinlich dennoch nicht genug ist, der wende sich bitte an einen Befürworter der lockeren Geldpolitik oder an Li Keqiang.

Der chinesische Premier Li Keqiang hat nämlich gerade eindringlich die heimische Notenbank davor gewarnt, noch mehr Geld in den Markt zu pumpen, weil die Geldmenge M2 im März die Schwelle von umgerechnet 16.400 Milliarden Dollar überschritten hatte, was etwa dem Doppelten der Wirtschaftsleistung Chinas entspricht (rund 8.500 Milliarden Dollar). (4)

Die Sorge der chinesischen Führung vor dem Platzen massenhaft fauler Kredite, die über Banken und das intransparente Schattenbankensystem unkontrolliert in wirtschaftlich nicht tragfähige Unternehmen und Projekte fließen und der Immobilienblase, ist inzwischen groß. Sie hat nun unter Strafandrohung im Falle der Nicht-beachtung eine Direktive an die Kommunalregierungen herausgegeben, die einen sofortigen Stopp aller Projekte in Sektoren mit Überkapazitäten verfügt. Auch Chinas Banken wurde verboten, an Sektoren mit Überkapazitäts-problemen oder generell an Projekte, für die es von der Zentralregierung in Peking keine Freigabe gibt, direkt oder indirekt neue Kredite zu vergeben oder bestehende zu verlängern. (5)

Aber nun ja, China ist eben China und da entscheiden nicht die Märkte, sondern allein die Parteiführung. Ob das die Probleme entschärfen wird, ist eine andere Sache.

In den USA jedenfalls ist die Geldmenge MZM (Money of Zero Maturity: Bargeld plus Giro-und Sparkonten, privaten Geldmarktkonten plus institutionellen Festgeld- und Geldmarktkonten) in den letzten drei Monaten annualisiert um 11,4 Prozent ausgeweitet worden. (6) Zugleich wird dort aber so viel auf Kredit spekuliert wie noch nie. Die US-Wertpapierkredite sind im September auf ein neues Allzeithoch von 401 Milliarden Dollar gestiegen – und sie steigen weiter. (7)

Laut den jüngsten Zahlen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) liegt der nominale Wert der weltweit „Over-The-Counter“ (OTC) gehandelten Derivate inzwischen mit 693.000 Milliarden Dollar (Stand Ende Juni 2013) wieder annähernd beim Ende Juni 2011 erzielten Topwert von 708.000 Milliarden Dollar. Nach der Lehman-Pleite war der Wert der gehandelten Derivate auf unter 600.000 Milliarden Dollar gefallen. (8)

Für die USA gibt die zuständige Aufsicht, das Office of the Comptroller of the Currency (OCC), den nominalen Wert der von US-Banken gehandelten Derivate aktuell, das heißt Stand Ende Juni 2013, mit 233.900 Milliarden Dollar an. 81 Prozent dieser Summe entfallen übrigens auf Zinsderivate. 99,8 Prozent des Handels läuft über nur 25 der insgesamt 1.400 erfassten US-Banken. Die vier größten „Wettbüros“ – denn Derivate sind nun einmal Wetten - der USA werden von JPMorgan, Citibank, Goldman Sachs und der Bank of America betrieben. Diese vier Banken stehen für 93 Prozent des von US-Banken getätigten Derivatehandels bzw. für Derivate im Wert von nominal 217.493 Milliarden Dollar. (9)

Deregulierung + Oligopolisierung = Manipulationsplage

Apropos „Preisstabilität“ und „Zinsderivate“:

Weltweit ermitteln Aufsichtsbehörden gegen internationale Großbanken wegen der Manipulation
  • der Referenzzinssätze Libor, Euribor und Tibor
    Libor, Euribor und Tibor sind für zahlreiche Finanzprodukte maßgeblich, insbesondere für Derivate, wobei Zinsderivate (Swaps, Futures) den Löwenanteil ausmachen. Außerdem orientieren sich zahlreiche Fondsprodukte, Immobilienkredite, Sparverträge und variabel verzinsliche Anleihen daran und mithin auch Dispokreditzinssätze. (10) (11) Das Volumen der Finanzprodukte, die auf dem Libor basieren, wurde zum Zeitpunkt des Beginns der Ermittlungen, Mitte 2012, auf 350.000 bis 800.000 Milliarden Dollar geschätzt (12) (13), beim Euribor reichten die Schätzungen – allein für die Derivate - von 250.000 bis 350.000 Milliarden Dollar (14) (15).
  • des Referenzwertes ISDAfix
    Der ISDAfix-Referenzwert ist für die Festlegung von Preisen bei nicht über Börsen gehandelte komplexe Finanzprodukten von zentraler Bedeutung, unter anderem insbesondere für Zinsderivate. Es wird geschätzt, dass Geschäfte im Wert von 450.000 Milliarden Dollar betroffen sein könnten. (16) (17)
  • des Devisenmarktes (18) (19)
    Der tägliche Umsatz auf dem Devisenmarkt liegt bei etwa 5.000 Milliarden Dollar. (20)
  • von Rohstoffpreisen (21) (22) (23) (24)
    Goldman Sachs unterhält beispielsweise in Detroit 27 große Lagerhäuser, in denen die Bank ein Viertel des weltweiten Aluminiums lagert. (25)
  • von Strompreisen (26) und
  • von Öl- und Gaspreisen (27) (28)
Entscheidend ist: Die Ermittlungen weiten sich in den meisten genannten Bereichen aus, sie haben eine globale Dimension und bei den Ermittlungen tauchen immer wieder die Namen derselben Großbanken auf.

Früchte der Manipulationsbekämpfung

Niemand wird deswegen noch ernsthaft bestreiten können, dass es in erheblichem Umfang Manipulationen gegeben hat und dies selbstverständlich Auswirkungen auf die Preise hatte. Natürlich ging es um Profit und der kann auf den Finanzmärkten durch steigende ebenso wie durch fallende Preise generiert werden. Es lässt sich also nicht ohne weiteres aus den vielfältigen Manipulationen schließen, in welcher Weise sie sich über die Zeit auf die jeweiligen Preisniveaus ausgewirkt haben.

Gleichwohl wird zum Beispiel bereits seit langem seitens der Wirtschaft über extrem gestiegene, unverhält-nismäßig hohe Rohstoff- und Energiepreise geklagt. Zudem haben die Notenbanken mit der Flutung der Märkte mit billigem Geld dazu beigetragen, dass die Preise in den unterschiedlichen Anlageklassen gestiegen sind. Denn irgendwo wollen die Gelder investiert werden und in der Wirtschaft kommen sie bis heute im Wesentlichen schon deswegen nicht an, weil die Investitionen mangels Nachfrage und positiver Wirtschaftsaussichten mau sind.

Immer wieder ist darüber diskutiert worden, ob und inwieweit die Preise auf den Märkten spekulativ überhöht waren bzw. es immer noch sind. Jetzt aber kristallisiert sich langsam heraus, in welch großem Umfang und wo überall sie manipuliert worden sind.

Ganz sicher man kann jedoch davon ausgehen, dass die sich in einer ganzen Reihe von Industrieländern und Finanzzentren rapide ausdehnenden Ermittlungen bereits jetzt zu einem drastischen Rückgang von Manipula-tionen geführt haben. Teilweise haben dafür die Aufsichtsbehörden schon gesorgt. Unabhängig davon ist jedoch jetzt auch die Gefahr, erwischt und überführt zu werden, besonders groß. Wer jetzt trotz aller laufenden Ermittlungen immer noch weiter manipuliert, geht folglich ein sehr hohes Risiko ein.

Wie gefährlich ist der Rückgang der Inflation wirklich?

In den USA und Europa machen sich nun aber die Notenbanker wegen der zurückgehenden Inflation bei zugleich schwacher Konjunktur große Sorgen und handeln lehrbuchgemäß. Ihr Bezugspunkt war und ist immer die Realwirtschaft. Eine mögliche Verzerrung der Preise in der Realwirtschaft durch Spekulation oder, viel schlimmer noch, durch Manipulation auf den Finanzmärkten hat dabei nie im Vordergrund gestanden – auch jetzt nicht. Nur einmal hat die EZB dezidiert Spekulation adressiert, nämlich im Sommer 2012, als der EZB-Präsident die Spekulation gegen den Euro durch die Ankündigung beendete, alles zu unternehmen, um den Euro zu erhalten.

Freilich lassen sich bei der Analyse der wirtschaftlichen Situation z. B. der Eurozone Gründe für sinkende Preise finden – man denke nur an die Lage in den südeuropäischen Krisenländern. Die sind ernst und nicht wegzudisku-tieren. Es ist aber nicht unwesentlich danach zu fragen, inwieweit dies nicht auch ein Zeichen der Wiederher-stellung einer funktionierenden Preisbildung ist und damit eine sichtbare und wünschenswerte Folge der groß angelegten Ermittlungen gegen Manipulation.

Auf eine durch umfangreiche Manipulation verzerrte Preisbildung geldpolitisch per Zinsentscheid zu reagieren, um die Teuerung im Zielkorridor zu halten, weil man nichts davon wusste, das wirkt im Nachhinein bizarr. Den Folgen der Manipulationsbekämpfung in Bezug auf die Preisentwicklung auf dieselbe Weise zu begegnen, obwohl man von der Manipulation Kenntnis hat, das ist grotesk.

Was taugen das theoretische Fundament und die Modelle der Notenbanker für die Realität, wenn sie die Grenzen des geldpolitisch Sinnvollen und Machbaren nicht mehr zu erkennen helfen vermögen?

Die Realität im Zweifelsfall umzudeuten, damit sie zu den Theorien und Modellen passt, ist jedenfalls keine angemessene Antwort. Aber es scheint die Antwort zu sein, die uns die Notenbanker – immer noch – geben, so wie z.B. EZB-Direktoriumsmitglied Benoît Cœuré.

So betrachtet stellt sich einmal mehr die Frage, ob und inwieweit die Notenbanken nicht schon seit längerer Zeit versuchen Probleme zu lösen, die sich geldpolitisch gar nicht oder nicht wirksam korrigieren lassen. Es ist keine akzeptable Entschuldigung, in ein neues Desaster zu steuern, weil man im Nebel nicht einmal das sehen will, was man erkennen könnte.

1 Kommentar:

  1. Hallo Herr Eichner,
    endlich nähern Sie sich dem Thema Geld(-Politik).

    Der verordnete (geplante) Leitzins hebelt nicht nur das wichtigste Wettbewerbselement der Geldwirtschaft aus, sondern strahlt in die ganze Wertschöpfungkette bis zum Endverbraucher, als Vorfinanzierungsgröße. Wehe der Preisfindung, wenn der Plan falsch ist.

    Ich bin gespannt, ob Sie den Gedanken zum Sinn von steter Inflation als Preisstabilität weiter verfolgen. Stets steigende Preise widersprechen steigender Produktivität, die Preise senkt - wie für die Zulieferer der Autoindustrie. Diese sich öffnende Schere zwischen der Macht Preise zu erhöhen und den gleichzeitig unter Deflation leidenden Bereichen, schafft jene Verlierer, die ohne staatliche Hilfe entweder verarmen (Niedriglöhner) oder globalisieren, d.h. abwandern müssen.

    Ich hoffe, Sie setzen die Gedanken ideologiefrei fort.
    Grüsse fidel

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