Dienstag, 8. April 2014

Europas Ukraine-Krisenpolitik gefährdet den Zusammenhalt der Europäischen Union



Seit Wochen, das heißt genauer gesagt seit den Morden auf dem Maidan und dem von den Protesten in Kiew erzwungenen politischen Umbruch in der Ukraine, dem die Abspaltung der Krim folgte, ist es der Übergangs-regierung, den USA, der Europäischen Union und Russland nicht gelungen, die starken, ethnisch-kulturell bedingten Spannungen abzubauen und das Land in ein ruhigeres Fahrwasser zu steuern.
Im Gegenteil, die Spannungen wurden in unverantwortlicher Weise weiter geschürt und das ist in erster Linie nichts anderes als die logische Quittung für eine die Fakten ignorierende Diplomatie, deren Informationsbasis an Oberflächlichkeit kaum mehr zu überbieten ist.

Europäische Ukraine-Krisenpolitik auf Verdacht

So erklärte Bundesaußenminister Steinmeier am 21. März, Ziel des Einsatzes von hundert OSZE-Beobachtern in der Ukraine sei es, belastbare Informationen über die Lage in dem Land zu bekommen. Zitat: „"So können Gerüchten und Behauptungen Fakten entgegengestellt werden". (1) Bei Bundeskanzlerin Merkel sah es Anfang April auch nicht besser aus. Präsident Putin hatte ihr in einem Telefonat am 31. März den Teilabzug russischer Truppen an der Grenze der Ukraine mitgeteilt – das russische Verteidigungsministerium sprach zu diesem Zeitpunkt von einem Infanterie-Bataillon. Merkels Sprecher hatte dann diese Information an die Öffentlichkeit weitergegeben. (2) Doch als Nato-Generalsekretär Rasmussen am nächsten Tag sagte, er könne das nicht bestätigen, das wäre nicht das, was die Nato sähe (3), da hatte sie offensichtlich keine zuverlässigen Informa-tionen, um die Aussage des Militärs entweder umgehend klar bestätigen oder entkräften zu können. (4)
Mit den neuen Abspaltungsbestrebungen im Osten des Landes ist klar geworden, dass diese Diplomatie bisher nicht nur versagt, sondern maßgeblich zu einer Entwicklung beigetragen hat, an deren Ende chaotische Verhältnisse und das Auseinanderbrechen der Ukraine zu stehen drohen. Genau darauf hat jetzt der russische Außenminister Sergej Lawrow in einem Gastbeitrag im Guardian in aller Deutlichkeit hingewiesen. (5) Doch im Eifer der Auseinandersetzung des Westens mit dem wiederentdeckten Erzfeind Russland ist die Zukunft der Bevölkerung der Ukraine zur Nebensache geworden – wenn sie denn überhaupt jemals im Mittelpunkt gestanden haben sollte.
 

Realpolitik? Nein danke!

Um es ganz deutlich zu sagen:

  1. Wie auch immer man es dreht und wendet, sowohl die Art und Weise, wie es zur Annexion der Krim durch Russland gekommen ist als auch die Angliederung selbst werden immer höchst umstritten bleiben, aber sie wird nicht mehr rückgängig gemacht werden.
  2. Vom Vorgehen Russlands auf der Krim auf das Vorgehen in der Ukraine und speziell in der Ostukraine schließen zu wollen, dafür gibt es kaum eine solide Grundlage. Einmal hat Russland nur auf der Krim sensible militärische Interessen, nämlich wegen des Zugangs zum Schwarzen Meer und damit zum Mittelmeer. Zum anderen gibt es ausschließlich auf der Krim eine Mehrheit in der Bevölkerung für die Angliederung in Russland. Nirgendwo sonst in der Ukraine ist das so.
  3. Eine Lösung der Ukraine-Krise ohne Russland ist aufgrund der starken wirtschaftlichen Verflechtungen, der erheblichen wirtschaftlichen und finanziellen Abhängigkeiten und der Bedeutung des russisch-stämmigen Teils der ukrainischen Bevölkerung (ohne die Krim) nicht möglich.
  4. Dass dieses Land vom Zerfall bedroht ist, ist nicht Russlands Schuld, jedenfalls definitiv nicht Russlands alleinige.

Scheingefecht um die Schuldfrage

Es ist vor allem – so wie im Zuge des arabischen Frühlings, der 2010 mit Protesten in Tunesien begann – eine Folge des politischen Umbruchs selbst und damit verknüpft zu einem wesentlichen Teil auch die Schuld (und die Unfähigkeit) der neuen Regierung in Kiew. Die macht es sich allzu einfach, indem sie den Rückhalt in der westlichen Politik und Presse dazu nutzt, ihren Anteil an der sich verschlimmernden Misere der Ukraine auf Russland abzuwälzen, anstatt sich den eigenen gravierenden Schwächen, Fehlern und Versäumnissen zu stellen und vor allem auch selbst Perspektiven für die gesamte Bevölkerung des Landes zu entwickeln. Bedeutung und Einfluss von Rechtsradikalen in der Ukraine sind nicht von der Hand zu weisen, wurden aber viel zu lange kleingeredet. Behoben ist dieses Problem noch keineswegs, was die ethnischen Minderheiten und insbesondere die russischstämmige Bevölkerung in der Ukraine nicht beruhigen kann. Das entstandene Misstrauen gegenüber der Regierung in Kiew lässt sich auch nicht durch ein paar Ankündigungen und einzelne Beschlüsse, die erst noch umgesetzt werden müssen, ausräumen. Das ist ein wichtiger, wenn nicht vielleicht der wichtigste Grund für die aktuellen Entwicklungen in der Ostukraine.
Eine große Mitschuld tragen vor allem auch die Europäer, die seit Jahren eine Politik der Spaltung oder genauer gesagt der vollständigen Abspaltung der Ukraine von Russland unterstützt und betrieben haben, die die ethnische Situation und die starken wirtschaftlichen Verflechtungen mit Russland vollkommen missachtete. Erst jetzt beginnen die Außenminister in der EU umzudenken, wie der Vorstoß von Bundesaußenminister Steinmeier für eine neue außenpolitische Strategie Europas gegenüber den östlichen Nachbarn belegt. (6) Das ist letztlich ein offenes Eingeständnis der Mitschuld an der Krim-Krise.
Hat sich also schon etwas geändert?

Grad der rhetorischen Aufrüstung verhindert Annäherung

In manchen Köpfen vielleicht. Doch im Reden und Handeln wurde und wird all dies offenbar auch weiterhin vom Gros der verantwortlichen westlichen Politiker und den westlichen Medien weitgehend ausgeblendet. Ex-Bundes-außenminister Joschka Fischer beispielsweise rief Europa vor dem Hintergrund der zunehmenden Kritik an der europäischen Ukraine-Krisenpolitik dazu auf, hart zu bleiben und den Kurs gegenüber Russland beizubehalten. (7) Anders ausgedrückt bemüht man sich im Westen seit den Morden auf dem Maidan in der Öffentlichkeit mit zum Teil kaum unterfütterten Vermutungen und Anschuldigungen sowie darauf gegründeten Drohungen gegenüber Russland vor allem darum, die Deutungshoheit und damit eine weiße Weste in der Ukraine-Krise zu behalten. Es wirkt beinahe wie ein Mantra: „Wir sind die Guten!“
Dabei wurde bisher von Politikern und Diplomaten im Westen nicht nur versäumt, unsachliche und verfälschende Übertreibungen in der Presse und in den Medien – etwa die an die Wand gemalte Gefahr eines von Russland heraufbeschwörten Krieges – durch um Sachlichkeit bemühte Klarstellungen wieder einzufangen und so aktiv zu einer Entspannung der Lage beizutragen. Im Gegenteil wird diese, die Öffentlichkeit fesselnde Rhetorik der Schlagzeilen immer wieder allzu gerne als Rückhalt für die Formulierung eigener politischer Positionen und Forderungen in der Presse und in den Medien genutzt.
Selbst wenn man selbstverständlich sehen muss, dass dies in Russland ebenso wie im Westen geschieht und vieles, was geschrieben und gesagt wird, reine Propaganda oder schlicht politisches Getöse ist, so bleibt unter dem Strich zu konstatieren, dass dieses Vorgehen das Finden von Lösungen nicht nur konterkariert, sondern für die Ukraine selbst eine todsichere Eskalationsstrategie darstellt.
Denn diese auf Hochtouren laufende Medien-Maschinerie beeinflusst das Denken und Handeln der Menschen in der Ukraine und schürt nicht nur die Ressentiments zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen in der Ukraine, sondern auch deren Vorurteile gegenüber dem Westen respektive Russland.

Die Medien-Schlacht gegen Russland spaltet Osteuropa

Was jedoch viel schwerer wiegt, ist, dass die Europäer mit dieser Ukraine-Krisenpolitik Gefahr laufen, den Zusammenhalt der Europäischen Union zu gefährden oder zumindest ernsthaft zu beschädigen.
Denn die politisch Verantwortlichen in der EU haben noch nicht begriffen, dass sie mit der über die gesamte westliche Presse betriebenen Droh- und Anschuldigungsrhetorik gegenüber Russland einen gefährlichen Keil in die Bevölkerung aller östlichen EU-Mitgliedstaaten treiben, der dort überall die pro-russischen Kräfte stärkt. Es wird nach wie vor eine Politik betrieben und gerade in der Ukraine-Krise in den Medien der Eindruck vermittelt, als gingen die politischen Entscheidungsträger in den großen EU-Mitgliedstaaten und in Brüssel und Straßburg davon aus, die gesamte Bevölkerung in den Ländern Osteuropas sei bedingungslos pro-europäisch. Doch das entspricht definitiv nicht den Tatsachen in der Ukraine und auch nicht der Realität in den östlichen Mitgliedstaaten der EU - was gegenwärtig komplett ausgeblendet wird.
So droht etwa in Bulgarien die Regierung an der Ukraine-Politik der EU zu zerbrechen. (8) Der pro-russische Koalitionspartner hat dies für den Fall weiterer Sanktionen gegen Russland angekündigt. Es ist damit zu rechnen, dass es in anderen osteuropäischen Mitgliedsaaten zu ähnlichen, wenn auch vielleicht nicht unmittelbar zu so folgenschweren politischen Spannungen kommt, bei denen sich auch die aufgestaute Unzufriedenheit mit der EU Bahn bricht.
Es ist sehr gut möglich, dass sich dies in der Europawahl am 25. Mai entsprechend niederschlagen wird, aber vor allem mittel- bis längerfristig auch die Bereitschaft von Mitgliedstaaten schwinden könnte, Entscheidungen und Integrationsbestrebungen auf europäischer Ebene mitzutragen.

Europäische Krisenpolitik steht ohnehin schon in der Kritik

Dazu trägt nicht nur die Ukraine-Krisenpolitik der EU bei, deren Kosten die Steuerzahler in den Mitgliedstaaten gegenwärtig noch nicht einmal auf dem Schirm haben. Vielmehr dürfte vor allem auch die Unzufriedenheit mit der europäischen Krisenpolitik im Zuge der in einigen Staaten überbordenden Staatsverschuldung bzw. Finanz-probleme eine wesentliche Rolle spielen sowie die Unzufriedenheit und mit der europäischen Industriepolitik in den kleineren Mitgliedstaaten, die einseitig Konzerne begünstigt.
Ein aktuelles Beispiel dafür ist das einstige Vorzeigeprojekt der europäischen Struktur- und Industriepolitik: Ungarn. Dessen Regierung befindet sich seit längerem auf Konfrontationskurs mit der Europäischen Kommission und dem Europäischen Rat. Sie hat jetzt, nach der gerade erneut deutlich gewonnenen Wahl, zwar seine Zugehörigkeit zur EU unterstrichen. Sie will aber zugleich künftig stärker mit Russland und China kooperieren, um nicht mehr vollkommen von der EU abhängig zu sein. Die von der EU erzwungene weite Öffnung der Märkte für europäische Konzerne, die die heimische mittelständische Wirtschaft in Ungarn ebenso wie in vielen anderen osteuropäischen Staaten niederkonkurrenzieren und die ebenfalls von der EU (und dem IWF) erzwungene Austeritätspolitik sind zentrale Gründe dafür.

Markiert die Ukraine-Krisenpolitik ungewollt einen Wendepunkt für die EU?

Der sukzessive Übergang zu einer solchen Politik der Reduzierung der Abhängigkeit von der EU ist nicht nur in einigen osteuropäischen Mitgliedstaaten eine denkbare Konsequenz der Unzufriedenheit mit der europäischen Krisenpolitik. Das Beispiel Ungarn könnte durchaus auch in Griechenland Schule machen, wenn es dort zu einem Regierungswechsel kommt. Das ist nicht mehr unwahrscheinlich, seit die Mehrheit der Regierungskoalition im griechischen Parlament nach einer Serie von Partei-Ausschlüssen und –Austritten, die regelmäßig mit der Verweigerung der Zustimmung zur Sanierungspolitik zusammenhingen, auf nur noch zwei Stimmen zusammen-geschmolzen ist (9). Denn allen Beteuerungen zum Trotz lässt sich die Sanierungspolitik der Troika nicht als Erfolgsstory verkaufen – vor allem in Griechenland nicht. Die wirtschaftliche und finanzielle Lage Griechenlands ist nach wie vor problematisch.
Es hat sich in Europa folglich einiges angestaut, was sich Bahn brechen könnte, wenn allzu viele Bürger in den Mitgliedstaaten die Ukraine-Krisenpolitik als weiteren Beleg dafür werten, dass die politische Verantwortung für ihr Land in Brüssel nicht gut aufgehoben ist.
Egal wie die Schuld an der Ukraine-Krise zu verteilen ist, sie liegt nicht alleine bei Russland. Dass im Westen dennoch unentwegt dieser Eindruck erweckt wird, wird nicht nur von den Menschen in Russland als unfair wahrgenommen, sondern auch von vielen in Europa. Die tonangebenden Politiker in Brüssel und in der EU haben nicht realisiert, dass sie mit der über die westlichen Medien betriebenen Droh- und Anschuldigungsrhetorik gegenüber Russland nicht nur einen gefährlichen Keil in die Bevölkerung der Ukraine treiben, sondern auch in die Bevölkerung europäischer Mitgliedstaaten in Osteuropa. Es ist eine Dampfwalzen-Politik, die auch vor dem eigenen Garten nicht halt macht.
Der nächste Ärger steht spätestens dann an, wenn den Steuerzahlern in der EU bewusst wird, welche finanziellen Lasten die europäische Ukraine-Politik für sie bedeutet. Auf diese Weise wird eine anti-europäische Stimmung geschürt, die infolge der Konsequenzen der europäischen Krisenpolitik in Mitgliedstaaten mit finanziellen Problemen ohnehin auf dem Vormarsch ist.
Doch wie heißt es in Joschka Fischers´ Gastbeitrag zur Ukraine-Krise in der Süddeutschen gleich wieder: „Europa, bleibe hart !“ (10)
Kurs halten also. Na, dann kann ja eigentlich gar nichts schief gehen für Europa.

1 Kommentar:

  1. Hallo SLE

    "Leider" muss man Sie zu diesem formidablen Post beglückwünschen.

    "Kurs halten also. Na, dann kann ja eigentlich gar nichts schief gehen für Europa." Ja, es kann nix mehr schief gehen in der Abwicklung der europäischen Idee. Monnet, Schumann, de Gasperi et al. rotieren im Grab!

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