Freitag, 18. April 2014

Ukraine-Kompromiss in Genf: Rhetorische Abrüstung der Medien war leider kein Bestandteil



Vielleicht wollen viele Verantwortliche in den Medien es nicht wahrhaben, aber die Art der Berichterstattung der westlichen und russischen Medien über die Ereignisse in der Ukraine hat seit den ersten Protesten gegen damaligen Präsidenten Janukowitsch einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf den Verlauf der Entwicklung und damit an der Zuspitzung der Krise gehabt.

Der Genfer Ukraine-Kompromiss

Nun ist gestern im Vierer-Gespräch der Diplomaten aus der Ukraine, den USA, Russland und der Europäischen Union in Genf ein ebenso unerwarteter wie erfreulicher Kompromiss gelungen, der erste Schritte zur Deeskalation der Lage in der gesamten Ukraine beinhaltet.
In der gemeinsamen Erklärung heißt es in den ersten beiden Absätzen, alle Seiten müssen jegliche Gewaltan-wendung, Einschüchterungen und Provokationen unterlassen, alle Formen von Extremismus, Rassismus und religiöser Intoleranz, einschließlich Antisemitismus werden aufs Schärfste verurteilt, alle illegalen bewaffneten Gruppen müssen entwaffnet, alle illegal besetzen Gebäude müssen ihren legitimen Eigentümern zurückgegeben und alle illegal besetzten Straßen, Plätze oder anderen öffentlichen Flächen in den ukrainischen Städten und Gemeinden müssen geräumt werden. (1) Des Weiteren heißt es im vierten Absatz der Erklärung, der angekündigte Verfassungsprozess werde transparent sein und niemanden ausgrenzen. Dazu gehöre ein sofortiger, breiter nationaler Dialog, der alle ukrainischen Regionen und politischen Körperschaften erreicht und Möglichkeiten zu öffentlichen Kommentierungen und Verbesserungsvorschlägen eröffnet. (2)
Der Wortlaut der gemeinsamen Erklärung macht folglich unmissverständlich klar, dass die Verantwortung für die Umsetzung der vereinbarten ersten Schritte nicht allein bei Russland liegt und dass sich die vereinbarten Schritte keineswegs allein auf die prorussischen Separatisten in der Ostukraine beziehen. Die Schritte beziehen sich vielmehr eindeutig ebenso auf die bewaffneten und gewaltbereiten rechtsradikalen Kräfte in der Ukraine oder allgemeiner gesprochen auf die Vermeidung jeglicher Aggressionen seitens des Lagers der proeuropäischen Kräfte in der Ukraine und in Kiew.
Was diese sehr begrüßenswerte Vereinbarung leider nicht enthält und auch nicht enthalten konnte, ist eine Selbstverpflichtung der westlichen und russischen Medien zur rhetorischen Abrüstung in der Berichterstattung über die Ukraine.
Um es ganz deutlich zu sagen:
Die Medien haben durch eine oftmals und vor allem wiederholt einseitige und wenig umsichtige Berichterstattung das Misstrauen zwischen prorussischen und proeuropäischen Bürgern in der Ukraine und zwischen Ost und West geschürt und damit zur Eskalation beigetragen.
Mehr noch drohen die Medien nun die ersten vereinbarten Schritte zur Deeskalation in der Ukraine zu konter-karieren, wenn sich an der Art der Berichterstattung nichts ändert und leider sieht es – zumindest bei einer ersten stichprobenartigen Durchsicht der Reaktionen auf den Genfer Kompromiss in den deutschen Medien nicht wirklich danach aus.

Der Ukraine-Kompromiss in den Medien: Diplomatie versus Medien

In der Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung heißt es in einem Kommentar von heute beispielsweise:

Der große Mangel an dem Plan ist, dass er keine Verantwortlichen benennt. Alles andere hätte Moskau nicht mitgetragen. Wer soll dafür sorgen, dass die Aufständischen ihre Waffen abgeben? Wer muss Konsequenzen fürchten, wenn sie es nicht tun? … Leider haben die vergangenen Wochen gezeigt, dass von allen Beteiligten, die in Genf am Tisch saßen, der Wille zu einer stabilen und souveränen Ukraine in Moskau am geringsten ist. Und dass Kiew allein die Kraft fehlt.(3)

In diesem Kommentar ist nur von der Entwaffnung und dem Rückzug der prorussischen Separatisten in der Ostukraine die Rede. Auf die vereinbarte Entwaffnung aller anderen militanten Kräfte und den vereinbarten Stopp jeglicher Aggression gegen ethnische und religiöse Minderheiten wird mit keinem Wort eingegangen. Wie einseitig der Kommentar ist, zeigt auch, dass darin folgerichtig nur die Verantwortung Russlands für die Entwaffnung und Aufgabe der Separatisten in der Ostukraine thematisiert wird, während er die Übergangs-regierung in Kiew von dieser und damit implizit auch von jeglicher Verantwortung für die Deeskalation der Lage in der Ukraine befreit. Mehr noch wird das seit Wochen in den westlichen Medien transportierte Bild einer kriegs- und expansionslüsternen russischen Regierung scheinbar weiter aufrechterhalten.
In diese Kerbe schlägt gleichfalls ein Artikel zum Genfer Kompromiss in der Online-Ausgabe des SPIEGEL von heute. Auch in diesem Artikel, der mit der Frage „Was taugt das Ergebnis der Diplomaten?“ eingeleitet wird, geht es allein um die Separatisten in der Ostukraine.

Als ersten Schritt zur Deeskalation sollen die Maskierten in der Ostukraine die von ihnen besetzten Gebäude räumen und ihre Waffen abgeben. Auf diese Forderung haben sich in Genf die Ukraine, Russland, die USA und die EU geeinigt. Nur: Wer soll sie entwaffnen? Wer soll die Gebäude räumen? Freiwillig werden die Besetzer nicht weichen, so viel scheint klar.(4)

Der Verfasser des Artikels wertet den Kompromiss von Genf aufgrund des Widerstands der Besetzer im Osten des Landes dann auch als praktisch unrealisierbar:

Der scheinbare Ausweg aus der Krise, der in Genf gefunden wurde - er ist keiner.(5)

Er erweckt damit den Eindruck, dass es in der Genfer Erklärung allein um die Unruhen in der Ostukraine geht. Aus dieser selektiven Sicht heraus bewertet er die Vereinbarung deswegen als unbrauchbar, weil die Übergangs-regierung in Kiew für die Beruhigung der Lage in der Ostukraine aus seiner Sicht zu schwach ist und es versäumt wurde, dafür eine Verantwortlichkeit Russlands festzulegen.
Ein Positiv-Beispiel war auch das Interview der ARD im Rahmen der Tagesthemen mit Bundesaußenminister Steinmeier zum Kompromiss von Genf am gestrigen Abend nicht. (6) Die Aussagen eines sichtbar zufriedenen und zuversichtlichen Bundesaußenministers kontrastierten mit den Fragen der Sprecherin, die die Ernsthaftigkeit der Absichten Russlands konsequent in Frage stellte. Während Steinmeier bemüht war, in seinen Antworten ein nüchternes und objektives Bild vom Kompromiss und den Verantwortlichkeiten für die Deeskalation in der Ukraine zu zeichnen, bediente die Sprecherin konsequent das seit Wochen in den westlichen Medien geprägte Bild von der Rolle und den Absichten Russlands im Ukraine-Konflikt.
Die Sprecherin leitete das Interview (7) mit der Bemerkung ein, dass nun in Genf Deeskalierung vereinbart worden sei, was sich ja erst einmal positiv anhöre. Ob er denn glaube, dass sich Russland daran halte?
Steinmeier erwiderte, man sei noch nicht am Ziel, aber es sei viel mehr erreicht worden als viele vorher für möglich gehalten hätten. Die Diplomatie habe nun wieder eine Chance.
Daraufhin merkte die Sprecherin an, Putin habe allerdings wenige Stunden vor dem Treffen gedroht, er könne sich vorstellen in die Ukraine einzumarschieren und knüpfte daran die Frage, wie das denn zusammenpasse?
Steinmeier antwortete, dass man noch nicht am Ziel sei und es darauf ankäme, ob die Aktiven, diejenigen die für die Politik verantwortlich sind in Russland, in der Ostukraine, sich an den Verabredungen orientieren, ob die Versprechen eingehalten werden. Der Kompromiss dürfe nun aber auch nicht kleingeredet werden. Dass jetzt sowohl von der Ukraine als auch von Russland unterschrieben worden sei, dass zukünftig auf Gewalt verzichtet werden soll, dass besetzte Gebäude geräumt werden sollen, dass illegale Gruppen entwaffnet werden sollen und dass man jetzt gemeinsam an einen Verfassungsprozess herangeht, das sei jedenfalls etwas, was die meisten nicht erwartet hätten vor diesem Genfer Treffen. Insofern sage er, der Anfang sei gemacht, ein wichtiger erster Schritt, aber dem müssten jetzt viele weitere folgen.
Die Sprecherin knüpfte daran die Frage an, ob denn diese Taten, die Steinmeier fordere, mit einem Präsidenten wie Putin überhaupt möglich seien?
Steinmeier sagte, er könne sich nicht vorstellen, dass der russische Außenminister nicht mit einem entspre-chenden Mandat in die Gespräche gegangen sei und er deswegen erst einmal davon ausgehe, dass das, was unterschrieben worden sei, auch im Wissen und Willen der russischen Führung unterschrieben worden sei und es nun darauf ankäme, ob es Signale gebe, dass dem Versprechen auf dem Papier auch Folge geleistet werde. Das hieße, dass die Gewalt jetzt signifikant zurückgehen müsse und Normalität in der ganzen Ukraine, auch in der Ostukraine, wieder einkehre.
Darauf die Sprecherin: Er habe doch sicher schon einen Plan B. Aus den USA sei zu hören, dass schon über die nächste Sanktionsstufe nachgedacht werde. Was denn seine nächste Stufe wäre?
Steinmeier antwortete, dass er zunächst einmal mit ganzer Kraft daran arbeiten werde, dass die getroffenen Vereinbarungen auch in die Tat umgesetzt würden. Es sei nicht so schwer darüber nachzudenken, was passiere, wenn das alles platze. Natürlich werde es dann weitere Debatten und Entscheidungen über Sanktionen geben. Aber es müsse daran festgehalten werden, dass die Diplomatie eine Chance bekomme und die habe sie heute gehabt und er finde, sie habe sie genutzt. Mit dieser Chance müsse jetzt umgegangen werden, das meine er für uns im Westen, das meine er für Russland, dass meine er aber vor allen Dingen für die streitenden Parteien in der Ukraine selbst.
Damit endete das vierminütige Interview.

Wo liegen die Grenzen des Informationsauftrages der Medien in Krisenfällen?

Journalisten und Nachrichtensprecher sollen und müssen kritische Fragen stellen. Das versteht sich von selbst. In dem Interview wurde jedoch das Vermögen Steinmeiers zur richtigen Einschätzung und Bewertung der politischen Akteure und des ausgehandelten Kompromisses infrage gestellt und zwar durch Gegenüberstellung des in den letzten Wochen in den westlichen Medien geprägten Bildes vom Ukraine-Russland-Konflikt. Können die Medien irren? Oder irrt sich nicht viel mehr der Bundesaußenminister? Das war die unausgesprochene, unterschwellig Botschaft des Interviews an die Fernsehzuschauer.
Es ist genau diese Form der Anmaßung, die den Einfluss und die Mitverantwortung der Medien für die Entwicklung der Ukraine-Krise begründet. Die Medien erheben sich zur obersten und entscheidenden Instanz auch in äußerst sensiblen Angelegenheiten, um vorgeblich ihrem Informationsauftrag nachzukommen, ohne Verantwortung dafür zu übernehmen zu müssen, wenn sie dabei weit über das Ziel hinausschießen und nicht wieder gutzumachenden Schaden anrichten.
In Deutschland gab es nach dem Geiseldrama von Gladbeck im Sommer 1988, bei dem Journalisten den Geisel-nehmern eine Plattform zur Selbstdarstellung boten und sogar selbst mit ihnen verhandelten, eine kontroverse Debatte über die Rolle von Journalisten bei Geiselnahmen bzw. über die Grenzen des Informationsauftrages der Medien. Der Deutsche Presserat kam damals zu dem Schluss, dass Geiselnehmer während einer Geiselnahme nicht interviewt werden sollten und eigenmächtige Vermittlungsversuche nicht zu den Aufgaben von Journalisten gehören. Der Pressekodex wurde entsprechend erweitert. (8)

Konzentration in der Medienbranche: Marktmacht macht´s möglich

Im vorliegenden Fall der Ukraine-Krise geht es um viele Menschenleben und letztlich um Krieg oder Frieden. Die "Geisel" ist pointiert ausgedrückt die Ukraine - eine Geisel der Medien. Eine Auseinandersetzung mit der Frage, wie weit die Medien in der Berichterstattung über diese Krise und alle damit zusammenhängenden Fragen gehen dürfen und vor allem, ob und inwieweit sie sich dadurch nicht bereits aktiv und auf schädliche Weise einmischen, findet jedoch nicht statt. Die Tatsache, dass die Medien neben ihrem Informationsauftrag ganz andere und mithin der Diplomatie entgegenstehende Interessen verfolgen, zum Beispiel Profit, wird nicht reflektiert.
Dass die Medien in der Berichterstattung überhaupt so weit gehen können wie oben exemplarisch verdeutlicht, ist nur deswegen möglich, weil die Medienbranche von vergleichsweise wenigen, sehr großen Akteuren dominiert wird. Genau aus diesem Grund ist eine Diskussion über die Grenzen in der Berichterstattung in Krisensituationen heute wichtiger denn je.

Die Medien sind mitverantwortlich

Der Genfer Kompromiss zur Ukraine-Krise schließt die rhetorische Abrüstung und Selbstbeschränkung der Medien nicht ein. Sie muss separat verhandelt und vereinbart werden – von den Medien selbst. Es geht dabei nicht um Einschränkung der objektiven Berichterstattung und Information, sondern um die Frage, wie weit die vorhandene Macht für Auflagen und Einschaltquoten ausgeschöpft werden darf ohne die diplomatischen Bemühungen Friedensbemühungen in der Ukraine zu behindern oder im schlimmsten Fall zu konterkarieren. Die Tatsache, dass sich so viele Menschen im Westen von den Medien zum Ukraine-Russland-Konflikt nicht objektive informiert fühlen, sollte von den Verantwortlichen in Presse und Medien als Alarmsignal gewertet werden.

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