Mittwoch, 23. Dezember 2015

Kritik an der deutschen Dominanz: Spaltet Angela Merkel Europa?



Ist Ihnen das auch aufgefallen? Ungewöhnlich wortkarg haben Presse und Medien in Deutschland dieses Mal über die Resultate des EU-Flüchtlingsgipfels berichtet.

Der EU-Flüchtlingsgipfel: Ein schwerer Schlag für die Bundesregierung

Genau genommen gab es bei Gipfeltreffen am 17. und 18. Dezember natürlich auch gar keine konkreten Resultate (1) – nicht nur was die Frage der Bewältigung der Flüchtlingskrise anbelangt. (2) Dabei hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel noch kurz zuvor in ihrer Regierungserklärung im Bundestag vor einem Rückfall Europas in die Nationalstaaterei gewarnt (3) und damit an die (unwilligen) Staats- und Regierungschefs der EU appelliert, in der Flüchtlingsfrage Solidarität zu zeigen und sich endlich auf einen gemeinsamen Plan zu einigen.
Anton Hofreiter (Die Grünen) erinnerte daraufhin im Bundestag daran, dass die Bundesregierung in den vergangenen zehn Jahren den Staaten an den EU-Außengrenzen Solidarität bei der Aufnahme von Flüchtlingen verweigert habe. "Jetzt verweigern uns die anderen die Solidarität", sagte Hofreiter. (4)

Selbstverursachte Eskalation der Flüchtlingskrise

Es ist richtig. Das Flüchtlingsproblem Europas existiert bereits seit Jahren. Italien und Griechenland wurden von der EU mit diesem Problem lange Zeit alleine gelassen. Erst seit der Flüchtlingsstrom über die Balkanroute vor wenigen Monaten so stark anzuschwellen begann, dass er die EU-Staaten an den Ausgrenzen und die Verantwortlichen in Brüssel schlicht restlos überforderte, ist das Flüchtlingsproblem wirklich in Brüssel angekommen.
Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang auch daran, dass die Bundeskanzlerin in einer einsamen Entscheidung in der Nacht vom 4. auf den 5. September die bedingungslose Grenzöffnung für eine unbegrenzte Zahl von Flüchtlingen verfügt hatte. (5) Mittlerweile gibt es eine Studie des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages mit dem Titel „Einreise von Asylsuchenden aus sicheren Drittstaaten“, die die Frage behandelt, ob die Bundeskanzlerin diese Entscheidung überhaupt hätte treffen dürfen, ohne zuvor den Bundestag zu befragen. (6) Doch unabhängig davon wird dies in vielen Mitgliedstaaten als Deutsche Einladung für Flüchtlinge angesehen, die den Flüchtlingsstrom erst so richtig in Gang brachte. So bewertete es beispielsweise auch der britische Telegraph bereits Ende Oktober in einem Artikel:

“It is hard to comprehend the stupefying naivety of those, including German Chancellor Angela Merkel, who thought it a good idea to send out an utterly self-serving signal a few weeks ago inviting anyone who could make the journey to head for Europe. This was ostensibly aimed at Syrians who had fled the civil war in their homeland; but the exodus has been swelled by migrants from many other countries looking for a better life – and who can blame them?” (7)
(„Schwer nachzuvollziehen ist die verblüffende Naivität jener, einschließlich der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, die es für eine gute Idee hielten, vor einigen Wochen absolut eigennützig ein Signal auszusenden und all jene nach Europa einzuladen, die die Reise dorthin schaffen könnten. Es war anscheinend an Syrer gerichtet, die vor dem Bürgerkrieg in ihrem Land geflohen sind; aber der Exodus schwoll an durch Migranten aus vielen anderen Ländern, die ein besseres Leben für sich suchen – und wer kann ihnen das verdenken?“ (Übersetzung S.L.E.))


Selbstverschuldete Blockade der EU-Flüchtlingspolitik

Gestern brachte ein Kommentar in der „Welt“ auf den Punkt, was viele insbesondere in Ost- und Südost-Europa mit Blick auf die „Willkommens-Politik“ der Bundeskanzlerin denken dürften:

… „Und wer besondere Verantwortung für Flüchtlinge übernimmt, darf nicht hinterher versuchen, dies auf Europa abzuwälzen.“ (8)

Es nicht ausschlaggebend, inwieweit diese Sichtweise völlig korrekt ist oder nicht. Denn ganz offensichtlich ist diese Einschätzung bei den Beratungen und Entscheidungen zur Flüchtlingskrise auf europäischer Ebene von Belang.
So lässt sich denn auch nachvollziehen, warum auf dem EU-Gipfel bezüglich der Flüchtlingspolitik keine konkreten Beschlüsse zustande gekommen sind. Die gegen den Willen einiger Regierungen beschlossenen Flüchtlingsquoten für die Verteilung von in Italien und Griechenland aufgenommenen Flüchtlingen auf die EU-Mitgliedstaaten, existieren nach wie vor praktisch lediglich auf dem Papier. Eine Reihe osteuropäischer Staaten wie u.a. die Slowakei, Tschechien und Ungarn (9) sperren sich dagegen, sie umzusetzen. Sie wollen sich von Brüssel nicht zwingen lassen. In anderen, wie z.B. in Lettland, wurde die Quote nur nach langen Streitereien überhaupt akzeptiert. (10)
Auch der Plan der Europäischen Kommission für den besseren Schutz der Außengrenzen der EU stößt in vielen Staaten auf Ablehnung, weil er von einigen Regierungen als Eingriff in die nationale Souveränität aufgefasst wird. Strittig ist nach wie vor auch die Finanzierung der drei Milliarden Euro für die mit der Türkei ausgehandelte Unterstützung bei der Begrenzung des Flüchtlingsstroms. (11)
Der von der Bundeskanzlerin eingebrachte Vorschlag von Flüchtlingskontingenten zur Verteilung von Flüchtlingen direkt aus der Türkei auf freiwilliger Basis (12) fand auf dem Gipfel kaum Zustimmung.
Für Streit auf dem EU-Gipfel sorgten zudem von der EU-Kommission vorgelegte Daten, denen zufolge der Flüchtlingsstrom aufgrund des Deals mit der Türkei, für den sich insbesondere auch Kanzlerin Angela Merkel stark gemacht hatte, bereits nachgelassen haben soll. Denn u.a. nach Zahlen Luxemburgs, das derzeit die Ratspräsidentschaft innehat, ist das nicht der Fall. (13)

Blockadehaltung auch auf anderen Politikfeldern der EU

Einen heftigen Streit gab es auf dem EU-Gipfel darüber hinaus um den von der Bundesregierung befürworteten Plan zum Ausbau der Erdgas-Pipeline Nord Stream (Nord Stream 2) zwischen Russland und der EU. Beteiligt sind an diesem Projekt neben Gazprom, Eon, BASF, die britisch-niederländische Shell, die österreichische OMV und die französische Engie-Gruppe. (14)
Die Gründe für den Streit: Für einige EU-Staaten würden dadurch Durchleitungsgebühren wegfallen, einige sehen eine dadurch entstehende Gefahr, von Russland von der Gasversorgung abgeschnitten zu werden. Italien, Bulgarien und Ungarn wiederum können nicht nachvollziehen, wieso Nord Stream 2 gebaut werden soll, während die EU-Kommission zuvor den Bau von South Stream (daran beteiligt waren neben Gazprom u.a. die italienische Eni, die französische EDF, BASF, die österreichische OMV, die Bulgarische Energie Holding (15)) blockiert und damit zum Scheitern dieses Projekts mit Russland beigetragen hatte. Auch Ratspräsident Tusk hatte Einwände, weil Nord Stream 2 nach seiner Auffassung die Abhängigkeit von Russland erhöhen und zudem künftig 80 Prozent der Gaslieferungen in die EU auf eine einzige Route konzentriert sein würden. (16)

Blockade der Bundeskanzlerin – und Kritik an der Dominanz der Deutschen

Vor dem Hintergrund dieser kleinen Bilanz lässt sich durchaus das Fazit ziehen, dass der EU-Gipfel für die Bundesregierung ausgesprochen schlecht gelaufen ist – und das gilt in Bezug auf die Flüchtlingspolitik insbesondere auch für die Bundeskanzlerin selbst.
Bei so viel Widerstand gegen deutsche Positionen in Bezug auf europapolitische Entscheidungen ist es kein Zufall, dass nun im Anschluss an den EU-Gipfel und vor dem Hintergrund des Wahlausgangs in Spanien erstmals offene Kritik an der – aus Sicht der Kritiker – Dominanz der Bundesregierung in der EU laut wird. Es war der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi, der sich in einem Interview mit der Financial Times (17) in dieser Weise äußerte.
Renzi sagte, es müsse eine wesentliche Lehre aus der Parlamentswahl in Spanien gezogen werden:

“I don’t know what’s going to happen to my friend Mariano but I know that those who have been in the front line of being the faithful allies of the politics of rigour without growth have lost their jobs,” Mr Renzi said.
“It happened in Warsaw, though the circumstances were very particular there, it happen­ed in Athens, it happened in Lisbon. Let’s see what happens in Madrid,” he added.
… „“I have esteem for Angela, we have an excellent personal relationship,” Mr Renzi said. “But we have to be frank...Europe has to serve all 28 countries, not just one,” he added. (18)
(„Ich weiß nicht, was mit meinem Freund Mariano passieren wird, aber ich weiß, dass diejenigen, die als treue Anhänger einer Sparpolitik ohne Wachstum in vorderster Front standen, ihre Jobs verloren haben“, sagte Renzi.
Es ist in Warschau geschehen, auch wenn die Umstände dort besondere waren, es geschah in Athen, es passierte in Lissabon. Warten wir ab, was in Madrid geschieht, fügte er hinzu.“
… “Ich schätze Angela, wir haben ein ausgezeichnetes persönliches Verhältnis“, sagte Renzi. „Aber wir müssen aufrichtig sein … Europa muss allen 28 Mitgliedsstaaten dienen, nicht nur einem“, ergänzte er. (Übersetzung S.L.E.))


„Rückfall in die Nationalstaaterei“ – eine Folge schwerer politischer Fehler?

Am gleichen Tag äußerte auch der Chef der gerade ins spanische Parlament gewählten Partei Podemos, Pablo Iglesias, Kritik an der Dominanz der Bundesregierung in der EU. Für Podemos stehe Spaniens "Souveränität" an erster Stelle. Spanien werde nicht länger ein Anhängsel Deutschlands sein, sagte er. (19)
Podemos ist, wie man dazu sagen muss, aus einer Protestbewegung gegen die Austeritätspolitik der konservativen spanischen Regierung heraus entstanden und die Bundesregierung ist unbestritten einer der stärksten Befürworter dieser Politik auf europäischer Ebene.
An diesem Punkt sieht man, dass die in Angela Merkels Regierungserklärung im Bundestag ausgesprochene Warnung an die EU-Mitgliedstaaten, nicht in „Nationalstaaterei“ zurück zu verfallen (s. o.), zu mitunter nicht geringen Anteilen ein Protest und in der Konsequenz – wie der jüngste EU-Gipfel gezeigt hat – eben auch eine Blockadehaltung gegenüber den Lösungsvorstellungen der Bundesregierung ist.
Seit 2008 befindet sich die Europäische Union im Krisenmodus, stolpern die Staats- und Regierungschefs von einer Krise in die nächste. Die gefundenen „Kompromisse“ zur Bewältigung derselben überzeugen immer weniger und das sieht man, wie Renzi im Interview nüchtern und zutreffend feststellte, daran, dass diejenigen Regierungen, die dieser, von den deutschen favorisierten „Lösung“ (Sparpolitik ohne Wachstum) folgten, abgewählt wurden.

Verspielen die Deutschen gerade die Akzeptanz für ihre Führungsrolle in der EU?

Wenn man es so betrachtet, dann kann man den zu beobachtenden „Rückfall in die Nationalstaaterei“ auch als Konsequenz einer verfehlten europäischen Krisenpolitik sehen, einer Krisenpolitik, die von der Bundesregierung maßgeblich mitgeprägt worden ist.
Sicher, das ist eine stark vereinfachende Sicht der Dinge. Doch im Kern ist diese Kritik, die ohne weiteres auf die europäische Krisenpolitik insgesamt, also einschließlich Ukrainekrise und Flüchtlingskrise, ausgedehnt werden könnte, sehr ernst zu nehmen. Sind die Deutschen gerade dabei, ihre historisch wichtige Führungsrolle in der Europäischen Union und vor allem für die europäische Integration zu verspielen?
Es sieht so aus.

Eine vorhersehbare Konsequenz der Krisenpolitik: Weimarer Verhältnisse in Europa

Es ist keineswegs so, dass die Bundesregierung nicht hätte wissen können, wohin die von ihr favorisierte und auf europäischer Ebene forcierte Austeritätspolitik führen würde, wenn sie in immer mehr Mitgliedstaaten der Europäischen Union angewendet wird. In der Weimarer Republik führte diese, seinerzeit von Heinrich Brüning vorangetriebene Politik exakt zu den Folgen, die seit Jahren auch in Ländern wie Griechenland, Portugal oder eben Spanien zu beobachten sind. Nicht wenige haben vor Jahren schon davor gewarnt. (20)
Insofern war für die Bundesregierung vorhersehbar, was Matteo Renzi im Interview feststellte, nämlich dass diese Politik die jeweiligen politischen Systeme schwer erschüttern, umkrempeln oder sogar kollabieren lassen würde. Dies schließt, was zu betonen ist, die Erstarkung extremer rechter wie linker Kräfte in den politischen Systemen mit ein. Ist die Europäische Union auf dem besten Wege, sich gerade auch bedingt durch ihren krisenpolitischen Kurs politisch zu „radikalisieren“ – mit der letzten Konsequenz eines „Rückfalls in die Nationalstaaterei“ oder anders ausgedrückt der Selbstauflösung?

Die richtige politische Balance in der Europäischen Union wiederfinden

Es wäre falsch, die Bedeutung von Matteo Renzis´ Kritik an der Bundesregierung herunterzuspielen. Denn bedingt dadurch, dass der aktuelle krisenpolitische Kurs mehr und mehr Regierungen in der EU, die ihm folgen, aus dem Amt fegt, verlieren die Deutschen zunehmend Verbündete in Europa, die ihre politischen Vorstellungen mitzutragen bereit sind. Der letzte Gipfel hat das gezeigt. Mehr noch darf auch nicht vergessen werden, dass – aufgrund ihrer Erfahrungen aus zwei Weltkriegen – die Mitgliedstaaten der EU eines immer fürchteten und nicht zulassen wollten: ein starkes, dominantes Deutschland.
Doch genau das ist die Karte, die die Bundeskanzlerin in Europa spielt. Das ist die Wahrnehmung und es ist – auch und gerade gemessen an den realen Folgen des großen Einflusses auf europapolitische Entscheidungen – eindeutig keine positive Wahrnehmung. Wie berechtigt diese Wertung auch immer ist, sie existiert in mittlerweile vielen Regierungszentralen innerhalb der EU.
Renzis´ Kritik kann deswegen durchaus als Hinweis auf eine drohende Zeitenwende für das europäische Projekt angesehen werden. Innerhalb der Europäischen Union könnte die Überzeugung mehrheitsfähig werden, dass der Einfluss Deutschlands auf europäischer Ebene begrenzt werden muss, um zu guten Lösungen für Europas Krisen und für Europa gelangen zu können. Ob das ein Irrtum ist, wird sich erst herausstellen wenn es soweit ist. Zuvor einzulenken und einen neuen Ansatz für den Dialog zur Bewältigung der europäischen Probleme zu suchen, das wäre die Alternative – für die Bundesregierung.
Doch wie es scheint, wird die Bundesregierung es erneut darauf ankommen lassen. Im Falle der Handhabung der Griechenlandkrise und des Widerstands der Regierung von Alexis Tsipras hatte das noch funktioniert. Tsipras musste einlenken. Inzwischen aber sind der Bundesregierung weitere Verbündete verloren gegangen. Die neuen Regierungen in Polen, Portugal und Spanien werden den aktuellen europapolitischen Positionen der Bundesregierung höchst kritisch gegenüber stehen.
Das Mauern gegen die Deutschen hat spätestens auf dem letzten EU-Gipfel begonnen. Matteo Renzi weiß das – und andere werden auf diesen Zug aufspringen. Für die Bundeskanzlerin könnten im Europäischen Rat nun schwere Zeiten anbrechen. Das wäre ein Novum.

1 Kommentar:

  1. Mindestens seit November 2015 wird Polen mit Zwangsmaßnahmen gedroht sollte es keine islamischen Flüchtlinge aufnehmen. In Polen wird die europäisch-deutsche Entwicklung in dieser Hinsicht bereits viel länger unbehaglich beobachtet. Scheinbar kennen die deutschen Politiker die polnische Geschichte nicht. Auch nicht den jahrhundertelangen Kampf um die eigene Staatlichkeit und Identität. Polen kann und will sich nicht der deutschen Selbstaufgabe und Identitätslosigkeit anschliessen. Erst die deutsch-europäischen Drohungen gegen Polen haben zur gegenwärtigen Eskalation geführt( gestern wieder Öttinger). Der deutsche Wahnsinn geht weiter und die Zwangsislamisierung wird nicht von jedem europäischen Staat gutgeheissen. Die Deutschen sollten diesen Weg zur Selbstzerstörung alleine gehen und die anderen Nationen nicht zwangsweise mit sich reissen.

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