David Cameron hat mit großer Geste seinen
Sieg bei den Verhandlungen mit den anderen EU-Staats- und Regierungschefs über
seine Reformforderungen verkündet. Tatsächlich ergeben sich aus den
Zugeständnissen an Großbritannien allenfalls geringfügige Änderungen des Status
Quo, nämlich in der Frage der sozialen Abfederung von Immigranten, speziell
Asylsuchenden bzw. Flüchtlingen. Im Wesentlichen wurde Großbritannien nur noch
einmal explizit bestätigt, was zuvor schon galt, nämlich dass das Land nicht
dem Euro, nicht dem Schengen-Abkommen beitreten und auch eine weitere
Vertiefung der europäischen Integration nicht mitmachen muss. (1)
Britisches Referendum: Auf des Messers Schneide
Was dieses Verhandlungsergebnis wert ist,
wird sich erst nach Abschluss des Referendums über den Verbleib Großbritanniens
in der Europäischen Union zeigen. Nach letzten Umfragen zeichnet sich ab, dass
es für die Befürworter des Verbleibs in der EU knapp werden dürfte. Dass sich
nun auch der populäre konservative Bürgermeister von London, Boris Johnson, für
einen Brexit stark macht (2), nicht zuletzt deswegen, weil er sich so für die
Nachfolge von Cameron in Position bringen will, macht die Sache für den
britischen Premier nicht einfacher.
Doch wie man Camerons Verhandlungsergebnis
und seine Chancen, einen Brexit abzuwenden, auch immer bewertet, allein die
Tatsache, dass es solche Verhandlungen und Zugeständnisse gegeben hat, schwächt
die Europäische Union insgesamt. Sie wirken wie die logische Konsequenz
anhaltender Streitereien, Uneinigkeit und auch Unwilligkeit, auf europäischer
Ebene zu Lösungen in schwierigen Fragen zu kommen, die die Union und seine
Mitglieder wirklich voran bringen könnten. Und in der Tat war die Konzentration
des jüngsten EU-Gipfels auf die Verhandlungen mit Großbritannien ein Segen für
die Staats- und Regierungschefs sowie speziell für Bundeskanzlerin Angela
Merkel. Denn wenigstens einmal bei einem EU-Gipfel seit Beginn der
Flüchtlingskrise musste als Ergebnis nicht die Unfähigkeit kaschiert werden,
sich auf Lösungen verständigen zu können. Denn die Klärung der
Flüchtlingsfragen wurde wegen der kurzfristigen Absage des türkischen
Regierungschefs einfach auf den nächsten EU-Gipfel vertagt.
Der EU-Flüchtlingsgipfel und die Landtagswahlen: Faule Kompromisse für die Wahlurne?
Der EU-Flüchtlingsgipfel mit der Türkei
findet nun eine Woche vor den Landtagswahlen in Baden-Württemberg,
Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt statt. Die letzten Umfragen deuten darauf
hin, dass die Alternative für Deutschland (AfD) überall stark abschneiden und
der einzige echte Stimmengewinner sein wird. Union und SPD verlieren hingegen
beide an Zustimmung. In Sachsen-Anhalt droht die SPD sogar von der AfD überholt
zu werden. (3)
Betrachtet man den aktuellen Aufstieg der
AfD als Spiegel der Flüchtlingspolitik der Regierungskoalition, dann hängt für
Schwarz-Rot bei den Landtagswahlen sehr viel davon ab, welche Ergebnisse der
kommende Flüchtlingsgipfel in Brüssel erbringt. (4) Mit anderen Worten muss
zumindest der Eindruck vermittelt werden können, dass die Verhandlungen über
die europäische Flüchtlingspolitik nicht länger festgefahren sind.
Doch die Wahrscheinlichkeit kosmetischer
Lösungen ist keineswegs gering. Einen echten Durchbruch in der
Flüchtlingspolitik traut den europäischen Staats- und Regierungschefs
gegenwärtig kaum jemand zu. Denn es gibt nicht einmal einen kleinsten
gemeinsamen Nenner – jedenfalls nicht, wenn man die Umsetzung von Beschlüssen
zum Maßstab erhebt.
Die Flüchtlingskrise offenbart die fundamentalen Schwächen der Europäischen Union
Insofern ist der kommende
Flüchtlingsgipfel wie überhaupt die Flüchtlingskrise auch für die britischen
Wähler von größter Bedeutung. Denn scheitert die EU in dieser besonders medienwirksamen
Frage, dann werden sich viele Briten in ihrer Europaskepsis bestätigt sehen. Es
ist nicht unwahrscheinlich, dass die Staats- und Regierungschefs bis Ende Juni,
wenn in Großbritannien das Referendum stattfindet, noch immer zu keiner durchgreifenden
europäischen Lösung des Flüchtlingsproblems gelangt sind.
Doch dieser Streit kostet nicht nur Zeit,
er kostet auch sehr viel Geld, weil eine rasche und effiziente Bewältigung der
durch den Flüchtlingsstrom verursachten Herausforderungen unterblieben ist. Je
länger das Gezerre um Lösungen weiter geht, desto teurer wird deswegen die Flüchtlingskrise
für Europa.
Es wäre insofern nur ein EU-Gipfel der
Ineffizienz und obendrein ein Argument gegen die EU, sollte sich die
Bundesregierung jetzt eine Lösung der Flüchtlingskrise oder auch nur Zeit ganz
einfach mit finanziellen Zugeständnissen erkaufen wollen. Vor dem Hintergrund
eines drohenden Denkzettels der Wähler bei den anstehenden Landtagswahlen ist
es jedoch nicht auszuschließen, dass die Bundesregierung beim EU-Gipfel Anfang
März mit allen Mitteln versuchen wird, die Flüchtlingskrise politisch, vor
allem auch innenpolitisch zu entschärfen.
Der Europäische Rat hat die Krise der EU zu verantworten
Keine Frage, all das zeigt, in welch
beklagenswerten Zustand die Staats- und Regierungschefs die Europäische Union
gesteuert haben. Schon immer haben Kenner der Materie darauf hingewiesen, dass
letztlich die starke Stellung der Staats- und Regierungschefs bei
Entscheidungen auf europäischer Ebene der Hebel für die Durchsetzung nationaler
Interessen oder anders ausgedrückt ein großes potenzielles Hemmnis für die
europäische Einigung ist. Die Europäische Kommission, die gemäß der Intention
der Gründerväter der Europäischen Gemeinschaften den Integrationsprozess
unbeeinflusst und allein mit dem Fokus darauf, was für Europa insgesamt gut
ist, vorantreiben sollte, ist heute nur noch ein Anhängsel der die
Entscheidungsprozesse prägenden oder eben, wie in den letzten Jahren zunehmend,
lähmenden Staats- und Regierungschefs.
Die Europäische Union, nicht nur die
Euro-Zone, steckt in einer Sackgasse. Es gibt genau genommen überhaupt keine
vorwärts gerichtete Entwicklung mehr auf europäischer Ebene, ja, nicht einmal
mehr eine gemeinsame, einigende Idee davon, wohin die Reise für die Europäische
Union überhaupt gehen soll. Es gibt nur noch ein kleinkariertes Geschachere um
Kompromisse, bei denen es seit der Finanzmarktkrise zunehmend darum geht,
welche Regierung ihre Interessen inwieweit durchsetzen kann oder eben um die
Blockade der Durchsetzung spezifischer nationaler Vorstellungen. Europäische
Lösungsvorschläge, die diese Bezeichnung verdienen, scheint es gar keine mehr
zu geben. Den nationalen Vorstellungen für Europapolitik wird einfach der
Stempel „europäisch“ aufgedrückt.
So betrachtet waren die Verhandlungen mit
Großbritannien ebenso wie das Verhandlungsergebnis ein europäischer
Offenbarungseid. David Cameron hat keinen Grund, auf seinen Deal mit der EU
stolz zu sein. Denn er stärkt weder Großbritannien in Europa noch bringt er Europa
in irgendeiner Form voran. Im Gegenteil ist der Deal ein Beleg dafür, dass die
Staats- und Regierungschefs nicht wahrnehmen (wollen), wie sehr sie die
Europäische Union an die Grenzen der Belastbarkeit geführt haben und vor allem,
dass nicht die äußeren Umstände es sind, sondern sie selbst, die das zu
verantworten haben. Sukzessive opfern sie – aus welchen Motiven heraus auch
immer – alles, was die Europäische Union zusammen hält und zu einer für alle sinnvollen
Sache macht.
Die EU zu einem unbewohnbaren Haus gemacht
Schon lange, spätestens seit dem Scheitern
einer geplanten Europäischen Verfassung bei Referenden in Frankreich und den
Niederlanden vor über zehn Jahren, ist den Staats- und Regierungschefs von den
europäischen Bürgern bescheinigt worden, dass sie die EU nur als Vehikel für
die Verwirklichung wirtschaftlicher Interessen benutzen. Hat sich seitdem etwas
geändert? Nein, im Gegenteil! Die Staats- und Regierungschefs haben nicht nur
so weiter gemacht wie zuvor, sie haben diesen Kurs mit Beginn der Finanz- und
Schuldenkrise sogar noch forciert vorangetrieben. Die Europäische Union droht
deswegen heute nicht nur ihren sozialen Zusammenhalt zu verlieren. Sie ist auch
in wirtschaftlicher und finanzieller Hinsicht immer weiter auseinander
gedriftet.
Vielleicht braucht die Europäische Union deswegen
den Brexit oder besser gesagt die dadurch ausgelösten Erschütterungen in
politischer, finanzieller und wirtschaftlicher Hinsicht. Der Einfluss
nationaler Regierungen auf europäischer Ebene und auf die Europäische
Kommission muss signifikant begrenzt werden. Denn der Europäische Rat ist
aktuell und vertraglich abgesichert der größte Spaltpilz Europas.
Ohne grundlegende institutionelle Reformen wird die EU scheitern
Die Europäische Union ist aus diesem Grund
heute weniger als vor Beginn der Finanzmarktkrise eine demokratische Veranstaltung
und sie bedarf deswegen dringender als je zuvor einer grundlegenden
institutionellen Reform, wenn sie nicht auf dem Scheiterhaufen der Geschichte
enden soll. Richtig und konsequent wäre es, den Europäischen Rat in der
bisherigen Form abzuschaffen und stattdessen ein Zwei-Kammer-System des
Europäischen Parlaments einzuführen.
Schließlich wird heute in der Praxis die
Exekutiv-Funktion der nationalen Regierungen und ihrer Fachminister über die Europäische
Kommission und deren Kommissare auf die europäische Ebene verlängert. Insofern
besteht auf europäischer Ebene aktuell in funktionaler Hinsicht eine Redundanz.
Bildlich gesprochen stehen hinter der Kommission die Regierungen und ihre
Minister, die ihr auf die Finger schauen und ihr die Hand führen. Kein Wunder
also, dass die Europäische Kommission bei der Krisenbewältigung seit 2008 ein eher
schwaches Bild abgibt.
Der Vorschlag eines Zwei-Kammer-Systems
auf europäischer Ebene ist nicht neu. Die European Constitutional Group hatte bereits
im Rahmen ihre Vorschläge für eine europäische Verfassung 1993 die
Notwendigkeit einer zweiten Kammer auf europäischer Ebene erkannt, in der nach
Vorstellung der Experten-Gruppe Mandatsträger der nationalen Parlamente
vertreten sein sollten. (5) Im 2004 von den Staats- und Regierungschefs
unterzeichneten Verfassungsentwurf, der jedoch anschließend bei den Referenden
in Frankreich und den Niederlanden scheiterte und deswegen nie in Kraft trat, war
dieser Vorschlag nicht aufgegriffen worden, weil die nationalen Regierungen ihre
Macht auf europäischer Ebene nicht einschränken lassen wollten.
Beim Zwei-Kammer-System würde sich eine Kammer
aus – wie bisher schon - auf nationaler Ebene direkt gewählten
Europaparlamentariern zusammensetzen, die andere z.B. aus gewählten Vertretern
der regionalen Parlamente. Separationsbestrebungen von europäischen Regionen,
wie etwa Schottland und Katalonien, könnte auf diese Weise wirksam entgegen
gewirkt werden, weil die Regionen anders als bisher – der „Ausschuss der
Regionen“ hat auf europäischer Ebene lediglich eine beratende Funktion – unmittelbar
selbst am Entscheidungsprozess beteiligt wären. Ferner würde so darauf
hingewirkt, dass die eigentliche große Stärke der Europäischen Union, nämlich
die regionale Vielfalt, in Entscheidungen auf europäischer Ebene besser als
bisher gewürdigt, ausgeschöpft und weiterentwickelt werden könnte.
Wer bringt die EU wieder auf einen zukunftsfähigen Weg?
Freilich gibt es unterschiedliche
Vorschläge für institutionelle Reformen und auch für ein Zwei-Kammern-System. Doch
wer setzt sich für ein solches Europa der Regionen ein, für ein Europa, das wieder
für alle und vor allem für die Bürger erkennbare Vorzüge bietet und das nicht
nur spezifische politische und wirtschaftliche Interessen befördert? Der
Europäische Rat? Die Europäische Kommission? Das Europäische Parlament?
Man hat leider nicht den Eindruck, dass
irgendeine europäische Institution ein solches Europa zu seiner Sache gemacht
hätte. Das zeigt allein schon die Tatsache, dass die Krisenbewältigung jenseits
der Flüchtlingskrise weitgehend auf die Europäische Zentralbank abgewälzt
wurde. Mehr noch erscheint keine der politisch verantwortlichen Institutionen die
umwälzenden Wahlergebnisse der jüngeren Zeit in den Mitgliedstaaten und andere Alarmsignale,
wie etwa die sich weiter verschärfenden Streitereien bei der Suche nach
politischen Lösungen, die Separationsbestrebungen von Regionen, die
vielfältigen Massenproteste gegen die europäische Sanierungs- und Flüchtlingspolitik
und vor allem auch die sich vergrößernden wirtschaftlichen Ungleichgewichte richtig
zu deuten. Stattdessen wird in einer die eigene Verantwortlichkeit verleugnenden
Weise an die Wähler appelliert, den Rechtspopulisten in Europa keine Chance zu geben
oder, wie die Reformforderungen David Camerons zeigen, versucht, Kompetenzen
auf die nationale Ebene zurückzuholen. Das sind letztlich hilflos wirkende Reaktionen
auf Symptome einer fundamentalen, zum großen Teil selbst verantworten Krise der
Europäischen Union. Diskussionswürdige Antworten gibt es nicht, weil der
politische Kurs, auf den die EU geführt wurde, gar nicht zur Diskussion
gestellt wird. Niemand will offensichtlich etwas falsch gemacht haben.
Die Landtagswahlen und das Brexit-Referendum: Rote Karten für Europa?
Und damit wird wieder der Bogen zu den
anstehenden Landtagswahlen geschlagen. Denn der Aufstieg der AfD zeigt nicht
nur, wie sehr die europäische Flüchtlingspolitik immer mehr Wählern gegen den
Strich geht. Er zeigt ebenso an, wie unpopulär der Euro und das von den
etablierten politischen Parteien vorangetriebene Europa inzwischen selbst in
Deutschland, das wirtschaftlich und finanziell besser dasteht als irgendein
anderer Mitgliedstaat, geworden sind.
Nicht die Europäische Union an sich ist
das Problem, sondern es ist die Macht des Europäischen Rates und wie er sie
gebraucht, die einen Zerfall der Union wahrscheinlicher werden lässt. Der
Europäische Rat ist in den zurückliegenden, von Krisen gekennzeichneten Jahren
zum Inbegriff einer immer kompromissloseren Politik nationaler Interessen
geworden und er wirkt damit dem eigentlichen Sinn und Zweck der Europäischen
Union immer stärker entgegen. Referenden über die Abschaffung oder zumindest
Entmachtung des Europäischen Rates wären deswegen weitaus sinnvoller als solche
über den Verbleib in der Europäischen Union. Doch das werden David Cameron und
seine Kollegen in den Regierungszentren der Mitgliedstaaten den Bürgern nicht
sagen. Ob sich auch Börsianer täuschen lassen? Eher nicht.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen