Mittwoch, 24. Februar 2016

Für ein neues Kapitel in der Krisenbewältigung: Schafft den Europäischen Rat ab, nicht die EU!





David Cameron hat mit großer Geste seinen Sieg bei den Verhandlungen mit den anderen EU-Staats- und Regierungschefs über seine Reformforderungen verkündet. Tatsächlich ergeben sich aus den Zugeständnissen an Großbritannien allenfalls geringfügige Änderungen des Status Quo, nämlich in der Frage der sozialen Abfederung von Immigranten, speziell Asylsuchenden bzw. Flüchtlingen. Im Wesentlichen wurde Großbritannien nur noch einmal explizit bestätigt, was zuvor schon galt, nämlich dass das Land nicht dem Euro, nicht dem Schengen-Abkommen beitreten und auch eine weitere Vertiefung der europäischen Integration nicht mitmachen muss. (1)

Britisches Referendum: Auf des Messers Schneide

Was dieses Verhandlungsergebnis wert ist, wird sich erst nach Abschluss des Referendums über den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union zeigen. Nach letzten Umfragen zeichnet sich ab, dass es für die Befürworter des Verbleibs in der EU knapp werden dürfte. Dass sich nun auch der populäre konservative Bürgermeister von London, Boris Johnson, für einen Brexit stark macht (2), nicht zuletzt deswegen, weil er sich so für die Nachfolge von Cameron in Position bringen will, macht die Sache für den britischen Premier nicht einfacher.
Doch wie man Camerons Verhandlungsergebnis und seine Chancen, einen Brexit abzuwenden, auch immer bewertet, allein die Tatsache, dass es solche Verhandlungen und Zugeständnisse gegeben hat, schwächt die Europäische Union insgesamt. Sie wirken wie die logische Konsequenz anhaltender Streitereien, Uneinigkeit und auch Unwilligkeit, auf europäischer Ebene zu Lösungen in schwierigen Fragen zu kommen, die die Union und seine Mitglieder wirklich voran bringen könnten. Und in der Tat war die Konzentration des jüngsten EU-Gipfels auf die Verhandlungen mit Großbritannien ein Segen für die Staats- und Regierungschefs sowie speziell für Bundeskanzlerin Angela Merkel. Denn wenigstens einmal bei einem EU-Gipfel seit Beginn der Flüchtlingskrise musste als Ergebnis nicht die Unfähigkeit kaschiert werden, sich auf Lösungen verständigen zu können. Denn die Klärung der Flüchtlingsfragen wurde wegen der kurzfristigen Absage des türkischen Regierungschefs einfach auf den nächsten EU-Gipfel vertagt.

Der EU-Flüchtlingsgipfel und die Landtagswahlen: Faule Kompromisse für die Wahlurne?

Der EU-Flüchtlingsgipfel mit der Türkei findet nun eine Woche vor den Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt statt. Die letzten Umfragen deuten darauf hin, dass die Alternative für Deutschland (AfD) überall stark abschneiden und der einzige echte Stimmengewinner sein wird. Union und SPD verlieren hingegen beide an Zustimmung. In Sachsen-Anhalt droht die SPD sogar von der AfD überholt zu werden. (3)
Betrachtet man den aktuellen Aufstieg der AfD als Spiegel der Flüchtlingspolitik der Regierungskoalition, dann hängt für Schwarz-Rot bei den Landtagswahlen sehr viel davon ab, welche Ergebnisse der kommende Flüchtlingsgipfel in Brüssel erbringt. (4) Mit anderen Worten muss zumindest der Eindruck vermittelt werden können, dass die Verhandlungen über die europäische Flüchtlingspolitik nicht länger festgefahren sind.
Doch die Wahrscheinlichkeit kosmetischer Lösungen ist keineswegs gering. Einen echten Durchbruch in der Flüchtlingspolitik traut den europäischen Staats- und Regierungschefs gegenwärtig kaum jemand zu. Denn es gibt nicht einmal einen kleinsten gemeinsamen Nenner – jedenfalls nicht, wenn man die Umsetzung von Beschlüssen zum Maßstab erhebt.

Die Flüchtlingskrise offenbart die fundamentalen Schwächen der Europäischen Union

Insofern ist der kommende Flüchtlingsgipfel wie überhaupt die Flüchtlingskrise auch für die britischen Wähler von größter Bedeutung. Denn scheitert die EU in dieser besonders medienwirksamen Frage, dann werden sich viele Briten in ihrer Europaskepsis bestätigt sehen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Staats- und Regierungschefs bis Ende Juni, wenn in Großbritannien das Referendum stattfindet, noch immer zu keiner durchgreifenden europäischen Lösung des Flüchtlingsproblems gelangt sind.
Doch dieser Streit kostet nicht nur Zeit, er kostet auch sehr viel Geld, weil eine rasche und effiziente Bewältigung der durch den Flüchtlingsstrom verursachten Herausforderungen unterblieben ist. Je länger das Gezerre um Lösungen weiter geht, desto teurer wird deswegen die Flüchtlingskrise für Europa.
Es wäre insofern nur ein EU-Gipfel der Ineffizienz und obendrein ein Argument gegen die EU, sollte sich die Bundesregierung jetzt eine Lösung der Flüchtlingskrise oder auch nur Zeit ganz einfach mit finanziellen Zugeständnissen erkaufen wollen. Vor dem Hintergrund eines drohenden Denkzettels der Wähler bei den anstehenden Landtagswahlen ist es jedoch nicht auszuschließen, dass die Bundesregierung beim EU-Gipfel Anfang März mit allen Mitteln versuchen wird, die Flüchtlingskrise politisch, vor allem auch innenpolitisch zu entschärfen.

Der Europäische Rat hat die Krise der EU zu verantworten

Keine Frage, all das zeigt, in welch beklagenswerten Zustand die Staats- und Regierungschefs die Europäische Union gesteuert haben. Schon immer haben Kenner der Materie darauf hingewiesen, dass letztlich die starke Stellung der Staats- und Regierungschefs bei Entscheidungen auf europäischer Ebene der Hebel für die Durchsetzung nationaler Interessen oder anders ausgedrückt ein großes potenzielles Hemmnis für die europäische Einigung ist. Die Europäische Kommission, die gemäß der Intention der Gründerväter der Europäischen Gemeinschaften den Integrationsprozess unbeeinflusst und allein mit dem Fokus darauf, was für Europa insgesamt gut ist, vorantreiben sollte, ist heute nur noch ein Anhängsel der die Entscheidungsprozesse prägenden oder eben, wie in den letzten Jahren zunehmend, lähmenden Staats- und Regierungschefs.
Die Europäische Union, nicht nur die Euro-Zone, steckt in einer Sackgasse. Es gibt genau genommen überhaupt keine vorwärts gerichtete Entwicklung mehr auf europäischer Ebene, ja, nicht einmal mehr eine gemeinsame, einigende Idee davon, wohin die Reise für die Europäische Union überhaupt gehen soll. Es gibt nur noch ein kleinkariertes Geschachere um Kompromisse, bei denen es seit der Finanzmarktkrise zunehmend darum geht, welche Regierung ihre Interessen inwieweit durchsetzen kann oder eben um die Blockade der Durchsetzung spezifischer nationaler Vorstellungen. Europäische Lösungsvorschläge, die diese Bezeichnung verdienen, scheint es gar keine mehr zu geben. Den nationalen Vorstellungen für Europapolitik wird einfach der Stempel „europäisch“ aufgedrückt.
So betrachtet waren die Verhandlungen mit Großbritannien ebenso wie das Verhandlungsergebnis ein europäischer Offenbarungseid. David Cameron hat keinen Grund, auf seinen Deal mit der EU stolz zu sein. Denn er stärkt weder Großbritannien in Europa noch bringt er Europa in irgendeiner Form voran. Im Gegenteil ist der Deal ein Beleg dafür, dass die Staats- und Regierungschefs nicht wahrnehmen (wollen), wie sehr sie die Europäische Union an die Grenzen der Belastbarkeit geführt haben und vor allem, dass nicht die äußeren Umstände es sind, sondern sie selbst, die das zu verantworten haben. Sukzessive opfern sie – aus welchen Motiven heraus auch immer – alles, was die Europäische Union zusammen hält und zu einer für alle sinnvollen Sache macht.

Die EU zu einem unbewohnbaren Haus gemacht

Schon lange, spätestens seit dem Scheitern einer geplanten Europäischen Verfassung bei Referenden in Frankreich und den Niederlanden vor über zehn Jahren, ist den Staats- und Regierungschefs von den europäischen Bürgern bescheinigt worden, dass sie die EU nur als Vehikel für die Verwirklichung wirtschaftlicher Interessen benutzen. Hat sich seitdem etwas geändert? Nein, im Gegenteil! Die Staats- und Regierungschefs haben nicht nur so weiter gemacht wie zuvor, sie haben diesen Kurs mit Beginn der Finanz- und Schuldenkrise sogar noch forciert vorangetrieben. Die Europäische Union droht deswegen heute nicht nur ihren sozialen Zusammenhalt zu verlieren. Sie ist auch in wirtschaftlicher und finanzieller Hinsicht immer weiter auseinander gedriftet.
Vielleicht braucht die Europäische Union deswegen den Brexit oder besser gesagt die dadurch ausgelösten Erschütterungen in politischer, finanzieller und wirtschaftlicher Hinsicht. Der Einfluss nationaler Regierungen auf europäischer Ebene und auf die Europäische Kommission muss signifikant begrenzt werden. Denn der Europäische Rat ist aktuell und vertraglich abgesichert der größte Spaltpilz Europas.

Ohne grundlegende institutionelle Reformen wird die EU scheitern

Die Europäische Union ist aus diesem Grund heute weniger als vor Beginn der Finanzmarktkrise eine demokratische Veranstaltung und sie bedarf deswegen dringender als je zuvor einer grundlegenden institutionellen Reform, wenn sie nicht auf dem Scheiterhaufen der Geschichte enden soll. Richtig und konsequent wäre es, den Europäischen Rat in der bisherigen Form abzuschaffen und stattdessen ein Zwei-Kammer-System des Europäischen Parlaments einzuführen.
Schließlich wird heute in der Praxis die Exekutiv-Funktion der nationalen Regierungen und ihrer Fachminister über die Europäische Kommission und deren Kommissare auf die europäische Ebene verlängert. Insofern besteht auf europäischer Ebene aktuell in funktionaler Hinsicht eine Redundanz. Bildlich gesprochen stehen hinter der Kommission die Regierungen und ihre Minister, die ihr auf die Finger schauen und ihr die Hand führen. Kein Wunder also, dass die Europäische Kommission bei der Krisenbewältigung seit 2008 ein eher schwaches Bild abgibt.
Der Vorschlag eines Zwei-Kammer-Systems auf europäischer Ebene ist nicht neu. Die European Constitutional Group hatte bereits im Rahmen ihre Vorschläge für eine europäische Verfassung 1993 die Notwendigkeit einer zweiten Kammer auf europäischer Ebene erkannt, in der nach Vorstellung der Experten-Gruppe Mandatsträger der nationalen Parlamente vertreten sein sollten. (5) Im 2004 von den Staats- und Regierungschefs unterzeichneten Verfassungsentwurf, der jedoch anschließend bei den Referenden in Frankreich und den Niederlanden scheiterte und deswegen nie in Kraft trat, war dieser Vorschlag nicht aufgegriffen worden, weil die nationalen Regierungen ihre Macht auf europäischer Ebene nicht einschränken lassen wollten.
Beim Zwei-Kammer-System würde sich eine Kammer aus – wie bisher schon - auf nationaler Ebene direkt gewählten Europaparlamentariern zusammensetzen, die andere z.B. aus gewählten Vertretern der regionalen Parlamente. Separationsbestrebungen von europäischen Regionen, wie etwa Schottland und Katalonien, könnte auf diese Weise wirksam entgegen gewirkt werden, weil die Regionen anders als bisher – der „Ausschuss der Regionen“ hat auf europäischer Ebene lediglich eine beratende Funktion – unmittelbar selbst am Entscheidungsprozess beteiligt wären. Ferner würde so darauf hingewirkt, dass die eigentliche große Stärke der Europäischen Union, nämlich die regionale Vielfalt, in Entscheidungen auf europäischer Ebene besser als bisher gewürdigt, ausgeschöpft und weiterentwickelt werden könnte.

Wer bringt die EU wieder auf einen zukunftsfähigen Weg?

Freilich gibt es unterschiedliche Vorschläge für institutionelle Reformen und auch für ein Zwei-Kammern-System. Doch wer setzt sich für ein solches Europa der Regionen ein, für ein Europa, das wieder für alle und vor allem für die Bürger erkennbare Vorzüge bietet und das nicht nur spezifische politische und wirtschaftliche Interessen befördert? Der Europäische Rat? Die Europäische Kommission? Das Europäische Parlament?
Man hat leider nicht den Eindruck, dass irgendeine europäische Institution ein solches Europa zu seiner Sache gemacht hätte. Das zeigt allein schon die Tatsache, dass die Krisenbewältigung jenseits der Flüchtlingskrise weitgehend auf die Europäische Zentralbank abgewälzt wurde. Mehr noch erscheint keine der politisch verantwortlichen Institutionen die umwälzenden Wahlergebnisse der jüngeren Zeit in den Mitgliedstaaten und andere Alarmsignale, wie etwa die sich weiter verschärfenden Streitereien bei der Suche nach politischen Lösungen, die Separationsbestrebungen von Regionen, die vielfältigen Massenproteste gegen die europäische Sanierungs- und Flüchtlingspolitik und vor allem auch die sich vergrößernden wirtschaftlichen Ungleichgewichte richtig zu deuten. Stattdessen wird in einer die eigene Verantwortlichkeit verleugnenden Weise an die Wähler appelliert, den Rechtspopulisten in Europa keine Chance zu geben oder, wie die Reformforderungen David Camerons zeigen, versucht, Kompetenzen auf die nationale Ebene zurückzuholen. Das sind letztlich hilflos wirkende Reaktionen auf Symptome einer fundamentalen, zum großen Teil selbst verantworten Krise der Europäischen Union. Diskussionswürdige Antworten gibt es nicht, weil der politische Kurs, auf den die EU geführt wurde, gar nicht zur Diskussion gestellt wird. Niemand will offensichtlich etwas falsch gemacht haben.

Die Landtagswahlen und das Brexit-Referendum: Rote Karten für Europa?

Und damit wird wieder der Bogen zu den anstehenden Landtagswahlen geschlagen. Denn der Aufstieg der AfD zeigt nicht nur, wie sehr die europäische Flüchtlingspolitik immer mehr Wählern gegen den Strich geht. Er zeigt ebenso an, wie unpopulär der Euro und das von den etablierten politischen Parteien vorangetriebene Europa inzwischen selbst in Deutschland, das wirtschaftlich und finanziell besser dasteht als irgendein anderer Mitgliedstaat, geworden sind.
Nicht die Europäische Union an sich ist das Problem, sondern es ist die Macht des Europäischen Rates und wie er sie gebraucht, die einen Zerfall der Union wahrscheinlicher werden lässt. Der Europäische Rat ist in den zurückliegenden, von Krisen gekennzeichneten Jahren zum Inbegriff einer immer kompromissloseren Politik nationaler Interessen geworden und er wirkt damit dem eigentlichen Sinn und Zweck der Europäischen Union immer stärker entgegen. Referenden über die Abschaffung oder zumindest Entmachtung des Europäischen Rates wären deswegen weitaus sinnvoller als solche über den Verbleib in der Europäischen Union. Doch das werden David Cameron und seine Kollegen in den Regierungszentren der Mitgliedstaaten den Bürgern nicht sagen. Ob sich auch Börsianer täuschen lassen? Eher nicht.

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