Für den Fall, dass Sie es gedacht haben (was
durchaus beabsichtigt ist): Nein, in der Überschrift ist nicht von der Großen
Koalition in Berlin die Rede, sondern von der in Wien. Es ist eine Schlagzeile
vom Wochenende in der Online-Ausgabe des österreichischen „Standard“ zu den
Ergebnissen einer aktuellen Umfrage. (1)
In Österreich fallen die Umfragewerte für
die Österreichische Volkspartei (ÖVP) und für die Sozialdemokratische Partei
Österreichs (SPÖ) seit langem kontinuierlich. Bei der letzten Nationalratswahl
(2013) kamen sie zusammen auf 50,8 Prozent der Stimmen. In der jüngsten Umfrage
erreichten sie jeweils nur noch einen Stimmenanteil von 22 Prozent. (2)
Nun, Österreich ist nicht Deutschland,
werden Sie vielleicht sagen. Das stimmt natürlich, auch wenn es schon gewisse
Ähnlichkeiten gibt. Doch sind die beiden großen Volksparteien CDU und SPD
wirklich noch so weit entfernt von „österreichischen Verhältnissen“?
Deutschland ist nicht Österreich – für die Volksparteien! Oder doch?
Tatsache ist, dass CDU und SPD bei den
jüngsten Landtagswahlen teils schwere Einbußen haben hinnehmen müssen:
- In Baden-Württemberg stürzte die CDU von 39 Prozent (2011) um 12 Prozentpunkte auf nur noch 27 Prozent ab, die SPD rauschte von 23,1 Prozent (2011) um 10,4 Prozentpunkte nach unten auf nur noch 12,7 Prozent.
- In Rheinland-Pfalz verlor die CDU 3,4 Prozentpunkte im Vergleich zur Landtagswahl von 2011 (35,2 Prozent), die SPD konnte sich leicht um 0,5 Prozentpunkte auf 36,2 Prozent verbessern. Es war aber kein Sieg der SPD, sondern ein Sieg der überzeugenden SPD-Spitzenkandidatin Malu Dreyer.
- In Sachsen-Anhalt kam die CDU nur noch auf 29,8 Prozent der Stimmen – 2,7 Prozentpunkte weniger als bei der vorherigen Landtagswahl; die SPD brach um 10,9 Prozentpunkte auf nur noch 10,6 Prozent Stimmenanteil ein.
Auch in den aktuellen Umfragen sieht es
für die beiden deutschen Volksparteien wieder schlechter aus. Aktuell kommen
CDU/CSU auf Bundesebene nur noch auf 33-34 Prozent, die SPD ist mit 20-21
Prozent auf ein historisches Tief gefallen. Das macht zusammen 53-55 Prozent.
(3)
Der politische Umbruch hat begonnen – auch in Deutschland
Bei den letzten Landtagswahlen in Deutschland
war die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD) der große
Gewinner. In Baden-Württemberg kam sie aus dem Stand auf 15,1 Prozent der
Stimmen, in Rheinland-Pfalz von Null auf 12,6 Prozent Stimmenanteil und in
Sachsen-Anhalt wurde sie mit 24,2 Prozent der Stimmen auf Anhieb zweitstärkste
Kraft. Das ist ein kometenhafter Aufstieg.
Auch in dieser Hinsicht gibt es eine klare
Parallele zu Österreich. Dort befindet sich die rechtspopulistische
Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) allerdings seit Jahren in einem eher kontinuierlichen
Aufstieg. Bei der Nationalratswahl von 2013 kam sie auf 20,5 Prozent der
Stimmen, in der jüngsten Umfrage liegt sie bei satten 32 Prozent und damit um
10 Prozentpunkte vor der SPÖ und vor der ÖVP. (4)
Sicher, die AfD, die seit kurzem mit der
FPÖ kooperiert, ist zwar noch weit von deren Popularitätswerten entfernt. Aber
sie ist auch eine viel jüngere, erst im Zuge der Euro-Krise Anfang 2013 gegründete
Partei, deren Aufstieg 2014 mit der Europawahl begann. Einen Popularitätsschub
erhielt sie zuletzt durch die umstrittene Flüchtlingspolitik der
Bundesregierung. Doch es ist keineswegs allein die Kritik an der
Flüchtlingspolitik, die der AfD den Zulauf bringt.
In ganz Europa erleiden altehrwürdige
Volksparteien bei Umfragen und bei Wahlen teils massive Verluste. Der Grund
dafür ist nicht einfach Unzufriedenheit mit den jeweiligen Regierungen, sondern
Unzufriedenheit mit den großen Volksparteien und ihrer Art des Umgangs mit dem
Mandat ihrer Wähler an sich. Es ist keine Politikverdrossenheit. Es ist ein
sich stetig vertiefender Riss zwischen den Wählern und dem politischen
Establishment.
Gesucht sind deswegen von vielen Wählern Möglichkeiten,
dem politischen Establishment, das in einer Parallelwelt, aber eben nicht in
der Welt der Wähler zu leben und zu entscheiden scheint, einen Denkzettel zu
verpassen – bei Wahlen oder auch bei Referenden. Die Iren haben es vor wenigen
Wochen bei der Parlamentswahl getan – die regierende konservative „Fine Gael“
brach um 10,6, ihr sozialdemokratischer Partner „Labour“ um 12,8 Prozentpunkte
ein. (5) Und die Niederländer taten es erst vor wenigen Tagen mit ihrem „Nee“ beim
Referendum über das Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine. (6)
Das sind zwei von vielen Fällen. Bemerkenswerter
Weise betonen jedoch viele Parteipolitiker bei derartigen Niederlagen
bestenfalls immer wieder lediglich, sie hätten die Wähler verstanden. Meist
sehen sie darin allerdings keinen Grund, an ihrer Politik wirklich etwas zu verändern.
Es wird im Gegenteil eher versucht einfach durchzuregieren, allen Wahlohrfeigen,
Protesten und – auf europäischer Ebene – auch allen politischen Streitigkeiten,
die mittlerweile allzu oft an Entscheidungsunfähigkeit grenzen, zum Trotz.
Wähler sucht Anti-Establishment-Politik, rechts oder links
Es entsteht nirgendwo in der Europäischen
Union der Eindruck, als würden von Seiten des politischen Establishments
ernsthafte Schritte unternommen, um dem sich vertiefenden Riss zwischen Wählern
und Politik, der in Umfragen, bei Wahlen und Referenden sowie Massenprotesten
seinen Ausdruck findet, entgegenzuwirken.
Kann irgendjemand vor dem Hintergrund all
dessen, was europaweit geschieht, noch ernsthaft glauben, Deutschland bliebe
von dieser selbst mit zu verantwortenden Entwicklung verschont?
Die AfD wird gegenwärtig von vielen
Wählern in Deutschland als einzige Partei wahrgenommen, die nicht zum
politischen Establishment gehört, sondern sich ihm entgegenstellt. Genau
deswegen machen Angriffe aus dem politischen Establishment auf diese Partei die
AfD nur noch stärker. Dass Deutschland oder Europa nach rechts rücken, lässt
sich dennoch so nicht sagen. In Spanien wird beispielsweise ebenso wie in
Griechenland eine Linkspartei als Anti-Establishment-Partei wahrgenommen
(„Podemos“ bzw. „Syriza“). Bei den jüngsten Landtagswahlen in Deutschland wurde
die Linkspartei hingegen von den Wählern ebenfalls „abgestraft“. Die
Linkspartei wird zwar nicht als Teil des politischen Establishments
wahrgenommen, aber als eine Partei, die diesem nicht glaubhaft etwas
entgegenzusetzen vermag. In sie gesetzte Hoffnungen wurden nicht erfüllt.
Die simple Wahrheit scheint zu sein, dass es
vielen Wählern bei Wahlen nicht mehr vornehmlich um die Frage geht, ob eine
Partei auf der linken oder rechten Seite des politischen Spektrums einzuordnen
ist. Ausschlaggebend ist offenbar vielmehr, ob sie sich entschieden gegen die
Politik der etablierten Parteien stellt, deren politische Programme in vielen
Belangen, vor allem auch in wirtschaftspolitischen Fragen, für die meisten ohnehin
kaum mehr zu unterscheiden sind.
Bei den nächsten Wahlen in Deutschland
wird all das nicht aus der Welt geschafft und für die Wähler irrelevant
geworden sein. Nur kann durchaus der Eindruck entstehen, CDU und SPD sorge das
nicht sonderlich.
Wahlvorschau 2017: Wahlen in NRW und im Bund
In einem Jahr, das heißt im Mai 2017, ist
es soweit. Dann wird in Nordrhein-Westfalen ein neuer Landtag gewählt und
voraussichtlich Ende September 2017 ein neuer Bundestag. Die NRW-Wahl gilt
vielen als „kleine Bundestagswahl“. Regiert wird NRW von einer rot-grünen
Koalition mit der populären SPD-Politikerin Hannelore Kraft als Ministerpräsidentin.
Die AfD ist im nordrhein-westfälischen Landtag bisher nicht vertreten. Es erscheint
allerdings als sicher, dass sie auch dort den Einzug ins Parlament schaffen
wird. Die neueste Umfrage, durchgeführt von Infratest Dimap Ende Februar – also
noch vor den über den Erwartungen liegenden Erfolgen der AfD bei den
Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt – sieht
die AfD in NRW bei 10 Prozent. Laut dieser Umfrage schafft auch die Linkspartei
(7 Prozent) den Einzug in den Landtag. FDP (7 Prozent) und Grüne (9 Prozent)
sind wieder im Landtag vertreten, die Piraten scheiden demnach jedoch daraus aus.
(7)
Die SPD kommt laut den Meinungsforschern
von Infratest auf 31 Prozent, die CDU auf 33 Prozent. Das heißt, nach dieser
Umfrage gibt es aktuell weder für Rot-Grün noch für Schwarz-Gelb eine Mehrheit
in NRW – eine mittlerweile vertraute Ausgangslage. Das bedeutet in jedem Fall,
dass die Regierungsbildung in NRW nach der Wahl im Mai 2017 schwieriger werden
wird als nach den letzten Wahlen 2012, bei denen Rot-Grün auf einen Stimmanteil
von 50,4 Prozent (SPD 39,1 Prozent, Grüne 11,3 Prozent) gekommen war.
Selbstverständlich ergeben die Umfragen
von Infratest Dimap allein noch kein solides Bild und bis zur NRW-Wahl kann
sich noch viel ändern. Beunruhigend für SPD wie auch für CDU sollte jedoch
sein, dass beide Parteien in den genannten
Umfragen seit September 2015 – also seit der bedingungslosen Öffnung der
deutschen Grenzen für Flüchtlinge – Zustimmung verloren haben (SPD: minus 5
Prozentpunkte, CDU: minus 2 Prozentpunkte), während die AfD seitdem deutlich
hinzugewinnen konnte (plus 6 Prozentpunkte). (8)
Insofern spiegelt sich hierin dieselbe
Entwicklung wider, die auch in den Ergebnissen der jüngsten Landtagswahlen ihren
Ausdruck fand.
Freilich wird die Flüchtlingspolitik bei
den Wahlen im nächsten Frühjahr und Herbst kaum mehr das dominierende Thema
sein. Seitdem die Balkanroute geschlossen wurde, ist der Flüchtlingsstrom nach
Deutschland ohnehin fast verebbt. Die Unzufriedenheit mit den etablierten
Parteien wird indes schon noch ein Thema sein und die AfD hat mit den letzten
Landtagswahlen erkennbar den Nimbus der Denkzettel-Partei erworben. Mehr noch
ist sie gegenwärtig die einzige Partei, der das – seit den inzwischen
abgestürzten Piraten – in Deutschland gelungen ist. Eine Alternative zur
„Alternative für Deutschland“ gibt es für die mit der Politik der etablierten
Parteien Unzufriedenen mit anderen Worten offenbar nicht. Jedenfalls gibt es
sie nicht, wenn Wähler ihre Unzufriedenheit bei Wahlen wirksam zum Ausdruck bringen wollen.
Ein Denkzettel namens AfD in NRW und im Bund?
Es ist deswegen sehr gut möglich, dass SPD
und CDU diese Unzufriedenheit bei den Wahlen in NRW erneut zu spüren bekommen
werden. Auszuschließen ist es ganz sicher nicht. Noch wahrscheinlicher wird es sogar
im Falle einer sich bis dahin verschlechternden wirtschaftlichen Lage in
Deutschland. Die weltkonjunkturelle Entwicklung verheißt bisher jedenfalls nichts
Gutes.
Falls die beiden Volksparteien in NRW
schlechte Ergebnisse einfahren, dürfte es zu spät für sie sein, um in den
wenigen Sommermonaten bis zur Bundestagswahl noch etwas an der Stimmungslage
der Wähler zu ändern. Ein parteipolitisches Umdenken wäre angesichts der in
signifikanten Teilen der Wählerschaft tief sitzenden Unzufriedenheit so
kurzfristig auch nicht mehr glaubwürdig zu vermitteln.
Die SPD scheint bisher ganz auf die
Popularität von Hannelore Kraft in NRW zu bauen, der NRW-CDU-Spitzenkandidat
Armin Laschet ebenso wie die gesamte CDU auf die Zugkraft der Bundeskanzlerin. Von
konzeptionellen Änderungen, die ein Zugehen auf verloren gegangene
Wählersegmente signalisieren könnten, ist jedenfalls in beiden Parteien auch
nach den jüngsten Landtagswahlen keine Rede. Für beide Parteien ist es eine gleichermaßen
riskante Strategie für das Wahljahr 2017, allein auf die Zugkraft ihrer
Spitzenkandidaten zu setzen. Es sieht nach „Augen zu und durch“ aus.
Das Szenario, mit dem sich ÖVP und SPÖ in
Österreich auseinandersetzen müssen, nämlich dass sie bei der nächsten Wahl beide
womöglich zu wenig Stimmen erhalten, um wenigstens in einer Großen Koalition weiterregieren
zu können, beschäftigt die beiden Volksparteien in Deutschland gegenwärtig
nicht. Sie könnten folglich von den Wählern auf dem falschen Fuß erwischt
werden oder anders ausgedrückt: Nie war die Gelegenheit günstiger, beiden
Volksparteien einen Denkzettel zu verpassen. Das könnte so manchen Wähler und
vor allem auch so manchen bisherigen Nicht-Wähler motivieren.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen